Seitenwechsel
Nichts. Sie hatte nichts gesehen, nichts gehört. Sie hatte weder Daten noch Beweise. Sie machte sich bloß durch einen haltlosen Verdacht unendlich elend. Es war eine Angelegenheit, bei der man Unannehmlichkeiten herausforderte und reichlich bekam. Nichts anderes.
Indem sie sich vergewisserte, dass sie kein wirkliches Wissen hatte, verdoppelte sie ihre Anstrengung, den peinigenden Gedanken an gebrochene Treue und verratenes Vertrauen aus ihrem Kopf zu vertreiben, der jedes Mal auftauchte, wenn Clare und Brian vor ihrem inneren Auge erschienen. Sie konnte nicht und würde auch nicht die Höllenqual nochmals durchleben, die gerade hinter ihr lag.
Sie musste, sagte sie sich, fair sein. Während ihrer ganzen Ehe hatte sie nicht die geringste Ursache gehabt, ihren Mann der Untreue zu verdächtigen, nicht einmal eines ernsthaften Flirts. Wenn er – und das bezweifelte sie – sich auf unbekannten Pfaden herumgetrieben hatte, sie wusste nichts davon. Warum die jetzt vermuten? Und sie beruhten auf nichts Konkreterem als auf einer Idee, die ihr bei seinen Worten durch den Kopf geschossen war, er habe eine Freundin, ihre Freundin, zu einer Party in seinem eigenen Haus eingeladen. Und das zu einer Zeit, als sie wahrscheinlich mehr schlief als wach gewesen war. Wie konnte sie, ohne dass etwas getan oder gesagt war oder ungeschehen oder ungesagt blieb, so leichthin annehmen, er sei schuldig? Warum so bereitwillig allen Glauben an den Wert ihres gemeinsamen Lebens aufgeben?
Und wenn da zufällig irgendetwas Kleines war – was könnte es wohl bedeuten? Nichts. Da waren die Jungen. Da war John Bellew. Der Gedanke an diese drei erleichterte sie ein wenig. Aber sie blickte der Zukunft nicht ins Auge. Sie wollte gar nichts spüren, nichts denken; einfach glauben, dass alles nur ein dummes Hirngespinst von ihr war. Doch das konnte sie nicht. Nicht ganz.
Weihnachten mit seiner Unwirklichkeit, seiner Hektik, seiner falschen Fröhlichkeit kam und ging. Irene war dankbar für die verworrene Unruhe der Jahreszeit. Das Verdrießliche daran, seine Menschenmengen, die leeren, unaufrichtigen Wiederholungen von Freundlichkeiten, drängte sich zwischen sie und das Nachdenken über ihre wachsende Traurigkeit.
Sie war auch dankbar für Clares anhaltende Abwesenheit, die, da John Bellew von einem langen Aufenthalt in Kanada zurückgekehrt war, sich in ihr anderes Leben verzogen hatte, fern und unzugänglich. Aber gegen die Festung von Irenes Gedanken stürmte immer wieder die Vorstellung an, dass Clare, obwohl abwesend, noch präsent und nahe war.
Brian hatte sich ebenfalls zurückgezogen. Das Haus enthielt seine äußere Hülle und seine Habe. Er kam und ging mit der für ihn typischen geräuschlosen Unregelmäßigkeit. Er saß ihr am Tisch gegenüber. Er schlief nachts in seinem Zimmer neben dem ihren. Aber er war fern und unzugänglich. Es nützte nichts, so zu tun, als ob er glücklich wäre, als wäre alles wie immer. Er war es nicht, und alles andere auch nicht. Allerdings musste es nicht unbedingt etwas sein, das mit Clare zu tun hatte. Es war, es musste ein weiterer Ausdruck der alten Sehnsucht sein.
Aber sie wünschte sich so sehr den Frühling, den März herbei, damit Clare aus ihrem und Brians Leben davonschwebte. Obwohl sie fast schon glaubte, dass zwischen den beiden nur eine großmütige Freundschaft existierte, hatte sie genug von Clare Kendry. Sie wollte frei sein von ihr und ihrem heimlichen Kommen und Gehen. Wenn nur irgendetwas passierte, das John Bellew zu einer früheren Abreise zwang oder Clare entfernte. Irgendetwas. Egal was. Auch wenn Clares Margery krank würde oder stürbe. Selbst, wenn Bellew entdecken sollte –
Sie holte schnell und scharf Luft. Und lange saß sie da und starrte auf ihre Hände im Schoß. Seltsam, sie hatte sich nicht klargemacht, wie leicht sie Clare aus ihrem Leben drängen konnte! Sie musste nur John Bellew sagen, dass seine Frau – Nein. Nicht das! Aber wenn er irgendwie von diesen Besuchen in Harlem erfahren würde – Warum sollte sie zögern? Warum Clare schonen?
Aber sie schreckte vor der Idee zurück, diesem Mann, Clare Kendrys weißem Ehemann, irgendetwas zu sagen, was ihn argwöhnen ließe, seine Frau sei eine Schwarze. Ebenso wenig konnte sie es schreiben oder telefonisch mitteilen oder jemandem erzählen, der es ihm sagen würde.
Sie saß in der Klemme zwischen zwei Loyalitäten, unterschiedlich und doch genau dasselbe. Loyalität sich selbst gegenüber. Und ihrer Rasse
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