Seitenwechsel
sein wirst, sie nach all der Zeit wiederzusehen.«
»Kinder sind nicht alles«, lautete Clare Kendrys Antwort. »Es gibt andere Dinge auf der Welt, auch wenn ich zugebe, manche scheinen das nicht zu ahnen.« Und sie lachte wohl mehr über einen heimlichen privaten Scherz als über ihre Worte.
Irene entgegnete: »Du weißt genau, dass du es nicht so meinst, Clare. Du versuchst nur, mich aufzuziehen. Ich weiß sehr wohl, dass ich das Muttersein ziemlich ernst nehme. Ich gehe völlig in meinen Jungen und dem Haushalt auf. Ich kann es nicht ändern. Und ehrlich, ich glaube nicht, dass man sich darüber lustig machen sollte.« Und obwohl ihr bewusst war, dass ihre Worte und ihre Einstellung etwas Affektiertes hatten, hatte sie weder die Kraft noch den Wunsch, das zu ändern.
Clare sagte daraufhin ganz ernst und sanft: »Du hast recht. Das ist nicht zum Lachen. Es ist schändlich von mir, dich aufzuziehen, ’Rene. Du bist so gut.« Und sie streckte die Hand aus und drückte Irenes Hand liebevoll. »Denk ja nicht«, fügte sie hinzu, »was auch immer passiert, dass ich je vergessen werde, wie gut du zu mir gewesen bist.«
»Unsinn!«
»O doch, das bist du. Es ist nur, dass ich keine richtige Moral und kein richtiges Pflichtgefühl habe wie du, und darum handle ich so, wie ich handle.«
»Und jetzt redest du Unsinn!«
»Aber es stimmt, ’Rene. Kannst du nicht einsehen, dass ich dir kein bisschen gleiche? Ja, um die Dinge zu bekommen, die ich unbedingt haben will, würde ich alles tun, Menschen verletzen und was auch immer über Bord werfen. Wirklich, ’Rene, ich bin nicht ungefährlich.« Ihre Stimme wie ihr Gesichtsausdruck waren von eindringlichem Ernst, der Irene ein vages Unbehagen verursachte.
»Ich glaube das nicht. Erst einmal ist das, was du sagst, so völlig falsch, so abwegig. Und dass du Dinge aufgibst –« Sie hielt inne, da sie auf keinen akzeptablen Begriff kam, der ihre Auffassung von Clares ›Habenwollen-Art‹ ausdrückte.
Aber Clare Kendry hatte zu weinen begonnen, lautstark, hemmungslos, und das aus keinem für Irene erkennbaren Grund.
dritter teil
Finale
eins
Das Jahr näherte sich seinem Ende. Oktober, November waren vorbei. Der Dezember hatte ein wenig Schnee gebracht, dann Frost, danach Tauwetter und einige ruhige, schöne Tage, die schon den Frühling verhießen.
Irene Redfield dachte nicht an dieses milde, wenig weihnachtliche Wetter, als sie aus der Seventh Avenue in ihre eigene Straße kam. Sie mochte es nicht, wenn es warm und frühlingshaft war, wo es doch knackig kalt sein sollte oder grau und bewölkt, als wollte es gleich losschneien. Das Wetter sollte sich wie die Menschen in den Geist einer Jahreszeit hineinversetzen. Die Feiertage standen unmittelbar bevor, und in den Straßen, durch die sie gegangen war, zogen sich Rinnsale von Schlammwasser, und die Sonne schien so warm, dass Kinder Mützen und Schals abgelegt hatten. Alles war so mild, ganz wie im April. Wetter für Ostern. Jedenfalls nicht für Weihnachten.
Aber, räumte sie widerwillig ein, sie selbst spürte in diesem Jahr auch keine richtige Weihnachtsstimmung. Doch da ließ sich scheint’s nichts machen, ebenso wenig wie beim Wetter. Sie war müde und niedergeschlagen. Und trotz ihrer Versuche konnte sie den dumpfen, unbestimmten Kummer nicht loswerden, der sich ihrer immer hartnäckiger bemächtigt hatte. Das ziellose morgendliche Herumwandern durch die belebten Straßen von Harlem, lange nachdem sie die Blumen bestellt hatte, die als Ausrede gedient hatten, war nur eine weitere Anstrengung, sich den Kummer vom Hals zu schaffen.
Sie ging die cremefarbenen Steinstufen zum Haus hinauf und dann in die Küche hinunter. Es wurden Gäste zum Tee erwartet. Aber das musste ihr, wie sie nach wenigen Worten mit Sadie und Zulena herausfand, keine Sorgen bereiten. Sie war dankbar. Sie wollte nicht behelligt werden. Sie ging nach oben, zog ihre Sachen aus und legte sich ins Bett.
Sie dachte: ›So ein Mist, dieser Besuch!‹
Sie dachte: ›Wenn ich nur sicher sein könnte, dass es im Grunde bloß Brasilien ist.‹
›Was immer es ist, wenn ich es nur wüsste, ich könnte schon damit umgehen.‹
Und wieder Brian. Er war unglücklich, ruhelos, in sich gekehrt. Und sie, die sich so viel darauf eingebildet hatte, seine Stimmungen zu kennen, ihre Ursachen und die Gegenmittel, hatte es zuerst unmöglich gefunden, dann unerträglich, dass diese Unruhe, die den anderen sporadischen Anfällen so ähnlich und doch ganz
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