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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leipert Sabine
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schau dir dieses Foto an, so glücklich könnt ihr zusammen sein. Statt Kai strich Tim nun mir kurz über den Kopf, und ich musste tief durchatmen, um die Tränen unten zu behalten. Warum konnte es nicht immer so sein? So einfach, nur wir drei? Warum mussten sich so viele Leute mit auf das Foto quetschen?
    Wir schwiegen eine Weile, bis Kai sagte, dass er Hunger hätte und Tim und ich uns erleichtert anlachten. Kai hatte eigentlich immer Hunger und war nur deshalb so dünn, weil er nur eins lieber tat als essen, nämlich herumtoben. Wenn er jetzt an Essen dachte, dann musste es ihm schon wieder besser gehen. Tim stand auf. Er musste noch mal zurück zur Schule, versicherte aber, dass er nachher einen Riesenberg Eis mitbringen würde. Ich klingelte nach der Schwester und bestellte ein Mittagessen, während Tim sich von Kai mit einem Küsschen verabschiedete, mir dann etwas ungelenk über die Wange strich und aus dem Zimmer eilte.

Bis nach Dortmund
    Während Kai sein an sich ungenießbares Mittagessen mampfte, erledigte ich ein paar Anrufe.
    »Wieso hast du mir nicht Bescheid gesagt?«, rief Hannes halb besorgt und halb vorwurfsvoll in den Hörer, als ich ihm gestand, dass die Wochenendausgabe ohne mein Interview erscheinen müsste. Dabei galt seine Sorge ausschließlich Kai und nicht der möglichen Lücke im Sportteil. Er bot sogar an, später im Krankenhaus vorbeizukommen, aber ich konnte es ihm ausreden. Ich hatte das Gefühl, Kais Unfall ging nur Tim und mich etwas an.
    Kai schaffte nur den halben Kinderteller, aber das war für jemanden, der vor einer Stunde noch unter Narkose gestanden hatte, eine beachtliche Leistung, versicherte mir die Krankenschwester. Ich legte mich wieder zu Kai ins Bett und versuchte vorsichtig herauszufinden, warum er diese waghalsige Kletteraktion unternommen hatte. Ich hatte nicht vor, ihm dafür noch eine Standpauke zu halten. Er wusste jetzt sicherlich, warum es nicht gut war, auf das Dach der Rutsche zu klettern, bevor man dreizehn, größer und aus Prinzip gegen alles war. Aber ich wollte wenigstens seine Beweggründe kennen, damit ich vorbereitet war, wenn mich die Kindergartenleiterin zu dem Elterngespräch einberief, das zwangsläufig nach so einem Dienstunfall folgen würde.
    »Hat dich jemand gezwungen, da hochzuklettern? Einer von den Großen?« Die Großen waren in Kais Kindergarten die Vorschulkinder, aber der Blickwinkel war schließlich entscheidend, und der konnte aus Sechsjährigen schon mal tonangebende Bandenführer machen.
    Kai schüttelte den Kopf. »Ich wollte doch nur Dortmund sehen.«
    Diese Antwort war zwar nicht die, die ich von einem Vierjährigen, der vom Klettergerüst gefallen war, erwartet hätte. Aber es war vollkommen logisch, dass man auf das Dach der Rutsche klettern musste, um Dortmund zu sehen.
    »Du meinst Dortmund, die Stadt Dortmund?«
    Kai nickte. »Papa hat gesagt, dass man Dortmund von Köln fast sehen kann.«
    »Aha, und warum hat Papa das gesagt?«
    »Na, weil wir doch dahingehen.«
    Nach Dortmund? Wir? Wer, wir? Ich mit Sicherheit nicht. Ich hatte mit Dortmund nichts am Hut. In Dortmund waren Westfalen. Dickköpfige, einsilbige Westfalen. Wieso Dortmund? Und wer waren »wir«?
    Kai schaute mich mit großen Augen an, als würde er meine Gedanken erraten. »Du kommst doch mit nach Dortmund, Mama, oder?«
    Ich schluckte. So schnell konnte es gehen. Eben hatte ich noch einen »So glücklich können wir sein«-Augenblick fürs mentale Fotoalbum, und jetzt entglitt mir das Glück Richtung Dortmund. Ich musste mich zusammenreißen, um Kai nicht mit Fragen zu bombardieren, die er erstens nicht beantworten konnte und ihm zweitens nur Angst einjagen würden. Stattdessen antwortete ich relativ diplomatisch: »Ähm, ja, nein, also, ich meine, ich weiß noch nicht so genau, aber vielleicht geht Papa ja auch gar nicht mehr nach Dortmund. Weißt du was, wir warten erst mal ab, okay?«
    Was genau wir erst mal abwarten sollten, wusste ich zwar nicht, aber Kai fand das in Ordnung.
    Als Tim ein paar Stunden später mit dem versprochenen Eis wiederkam, konnte ich an nichts anderes mehr denken als Dortmund. Allerdings konnte ich ihn auch nicht zur Rede stellen, da irgendwann meine besorgte Mutter, dann Sarah und zuguterletzt doch noch Hannes auftauchten, um nach Kai zu sehen. Da Sarah lange Zeit keine Anstalten machte zu gehen, war ich nun sogar froh, dass Hannes sich gegen meine ausdrückliche Ansage durchgesetzt hatte. Es war schon spät, als wieder Ruhe in

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