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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leipert Sabine
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Äußerste strapaziert hatte. Anscheinend nahm man in einem Krankenhaus automatisch eine Wattebauschstimme an. Meine Gutmütigkeit war aber schnell wieder verflogen, als Kai endlich, allerdings noch unter Narkose, aus dem OP geschoben wurde. Sofort schossen mir wieder Tränen in die Augen, und Tim drückte automatisch meine Hand. Wir liefen zu ihm, und ich strich Kai ununterbrochen über seine weichen blassen Wangen. Schlafend sah er schon unglaublich schutzbedürftig aus. Unter Narkose und mit einem dicken Verband um sein kleines Ärmchen brachte er meinen Beschützerinstinkt in Sekundenschnelle in allergrößte Alarmbereitschaft. Ich war bereit, jeden Arzt, der sich meinem Sohn näherte, in die Flucht zu schlagen.
    Der behandelnde Arzt schien meine ausgefahrenen Krallen zu spüren und wandte sich vorsichtshalber an Tim.
    »Er wird in ein paar Minuten wieder aufwachen. Wir würden Ihren Sohn aber gerne für einen Tag zur Beobachtung hierbehalten.«
    Ich ließ Tim noch nicht einmal die Gelegenheit, den Mund aufzumachen, und fuhr den Arzt schrill an: »Wieso zur Beobachtung? Was wollen Sie denn beobachten?«
    »Er hat eine leichte Gehirnerschütterung, da ist es üblich, dass wir die Patienten zur Beobachtung hierbehalten«, versuchte der Arzt vergeblich, mich zu beruhigen.
    »Wenn Sie ihn zur Beobachtung hierbehalten wollen, dann heißt es doch auch, dass es was zu beobachten gibt, oder etwa nicht?«
    Der Arzt sah Tim hilfesuchend an, der mir auch gleich beruhigend seine Hand auf die Schulter legte. »Es ist wirklich nur Routine, Karina.«
    »Ihr Mann hat recht. Morgen springt Ihr Sohn schon wieder rum. Kinder erholen sich sehr schnell.«
    »Na gut«, gab ich schließlich nach, aber nur, weil ich davon abgelenkt war, dass er Tim als meinen Mann bezeichnet hatte. Der Arzt verabschiedete sich, und Tim und ich sahen uns etwas verlegen an, bevor wir der Krankenschwester in Kais Zimmer folgten. Es war ein Einzelzimmer. Der Vorteil einer Privatversicherung, obwohl ich das bei Kindern ziemlich übertrieben fand. Die langweilten sich doch viel zu schnell, wenn sie keinen hatten, mit dem sie Rollstuhlrennen veranstalten konnten. Die Schwester ließ uns mit dem immer noch schlummernden Kai allein, und eine Weile wussten Tim und ich nicht, was wir sagen sollten. Es war vermutlich der Schock, oder die Erleichterung, dass es nicht schlimmer war. Oder die Tatsache, dass einiges Ungeklärtes zwischen uns im Raum lag, das dort auch noch eine Weile liegen bleiben würde, da es weder der geeignete Ort noch Zeitpunkt für ein Gespräch über Hochzeitsanträge und dergleichen war. Tim rettete sich schließlich in Floskeln darüber, dass man Kinder nun mal nicht immer beschützen könnte und dass so etwas zum Kindsein dazugehörte.
    Wieder streichelte ich Kais Gesicht, bis er benommen seine Augen aufschlug. Leise flüsterte ich, dass alles gut sei, Mami und Papi jetzt bei ihm seien und er keine Angst haben müsse. Auch das waren Floskeln, aber sie kamen von Herzen, und ich wusste, dass Kai jetzt genau so etwas hören wollte. Er fing an zu weinen, und Tim und ich überschlugen uns fast im Trösten. Kai war kein weinerliches Kind. Im Gegenteil, meistens war er sogar stolz auf seine »Kriegsverletzungen« und präsentierte mir gerne seine Kratzer und aufgeschlagenen Knie, die er sich beim Spielen zugezogen hatte. Aber natürlich musste er den Schock über seinen Unfall und alles, was danach passiert war, erst mal verdauen. Normalerweise war Papa beim Trösten seine erste Wahl. Aber dieses Mal verlangte er ausdrücklich nach mir, seiner Mama, die ihn in den Arm nehmen sollte. Ich krabbelte zu ihm unter die Bettdecke und drückte seinen kleinen Körper an mich, und schon ging es auch mir besser. Tim machte sich ganz dünn und quetschte sich auf der anderen Seite neben Kai ins Bett. Wir lächelten uns zu, als Kai allmählich aufhörte zu weinen. Und für einen ganz kurzen Moment schoss mir derselbe Gedanke durch den Kopf, den ich früher manchmal gehabt hatte, wenn wir drei zusammen im Bett lagen oder es uns auf dem Sofa gemütlich machten oder auf dem Küchenboden herumtobten. Momente, in denen ich mir wie ein Teil einer ganz besonderen Einheit vorkam, die nichts auseinanderbringen könnte. Momente, von denen ich am liebsten ein mentales Foto gemacht hätte, um es mir in anderen Momenten zu zeigen, wie jenem, als Tim von seiner Klassenfahrt zurückgekommen war. Und um mir dann in solchen weniger angenehmen Momenten zu sagen, lass den Scheiß,

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