Seitenwechsel
Kais Krankenzimmer einkehrte. Kai schlief völlig erschöpft ein, und als Letzte ließ uns Sarah endlich allein. Ich deckte Kai noch einmal sorgfältig zu und tat so, als müsste ich auch noch sein Kopfkissen richten. Als es nichts mehr für meine mütterliche Fürsorge zu tun gab, drehte ich mich zu Tim um und sagte nur ein Wort: »Dortmund?!«
Er wusste sofort Bescheid, denn er atmete laut ein und nickte beim Ausatmen bedrückt. »Wir haben darüber nachgedacht. Sarah hat eine Stelle in Dortmund, und ich werde nach dem zweiten Staatsexamen zunächst nur ein paar Aushilfsstunden an meiner alten Schule machen können. Dafür könnte ich auch pendeln.«
Das klang aber nach einem ziemlich ausdifferenzierten Plan für ein einfaches »darüber nachgedacht«. Mit dem Schönheitsfehler, dass ich in diesem Plan nicht vorkam. Ich schüttelte sprachlos den Kopf.
»Und wann hattest du vor, mir davon zu erzählen?«
Tims Gesichtsausdruck wurde härter. »Wann wolltest du mir denn von eurer Hochzeit erzählen?«
Jetzt musste ich nach Luft schnappen. Tina, natürlich. Der konnte man auch kein Geheimnis mehr anvertrauen.
»Özlem ist es rausgerutscht, als ich sie zufällig auf der Straße getroffen habe«, klärte Tim den Weg der stillen Post jedoch auf. Mir lag ein ironisches »Wir haben darüber nachgedacht« auf der Zunge. Aber stattdessen erklärte ich stockend: »Hannes hat mir einen Antrag gemacht.«
Das war überflüssig, weil Tim sich vermutlich dachte, dass die Idee nicht von mir stammte. »Und was hast du geantwortet?«, fragte er merkwürdig ruhig.
Wieso interessierte ihn das jetzt überhaupt noch? Meine Antwort konnte ihm doch scheißegal sein, wenn er erst mal in Dortmund hockte. Oder wollte er für ein Stelldichein mit mir etwa auch pendeln?
Es war letztendlich doch nur ein Abschied auf Raten gewesen. Und offensichtlich brauchten wir ein Dortmund oder einen Heiratsantrag, um uns das bewusst zu machen. Schon fast gruselig, wie genau Tinas Vorhersagen eintrafen. Ich sah Tim an und sagte leise: »Wir haben uns doch die ganze Zeit nur etwas vorgemacht, Tim. Als wir mit der … mit unseren Treffen angefangen haben, haben wir gesagt, wir schauen, wo es uns hinführt. Aber es führt nirgendwo hin, oder? Es führt nur dazu, dass wir alle betrügen. Und wenn wir mal ehrlich sind, betrügen wir uns selbst am allermeisten. Hannes meint es wirklich ernst mit mir … und Sarah will nach Dortmund – und Kinder.« Ich blickte Tim dabei prüfend an, um zu sehen, ob ihn diese Neuigkeit überraschte. Das tat sie nicht, und damit war der Punkt auch geklärt. Vermutlich hatten sie darüber auch mal eben so nebenbei nachgedacht. Tim ging gar nicht weiter darauf ein. Er wiederholte nur noch mal seine Frage: »Was hast du Hannes geantwortet?«
Ich atmete tief durch und schaute Tim gequält an. »Wir können nicht ewig so weitermachen, Tim. Kai braucht endlich klare Verhältnisse. Und wir auch.« Ich sah ihn forschend an und zwang ihn dazu, meinen Blick zu erwidern. Meine Stimme zitterte plötzlich, als ich Tim vor die Wahl stellte, vor die ich ihn schon längst hätte stellen sollen. »Das mit uns geht nur ganz oder gar nicht, Tim.«
Tim nickte traurig und gab die Entscheidung postwendend an mich zurück. »Also hast du ja gesagt?«
Er schaute mich dabei durchdringend an, als versuchte er, mich mit seinem Blick zu einer Antwort zu zwingen. Aber was genau wollte er eigentlich hören? Er war schließlich derjenige, der darüber nachdachte, mit seiner neuen Freundin nach Dortmund zu gehen. Er war derjenige, der Pläne ohne mich machte. Ich hatte Hannes aus Rücksicht auf Tim schon viel zu lange hingehalten. Jetzt konnte ich mit einem Wort klare Verhältnisse schaffen und spürte die Tränen in mir hochsteigen. Dann stieß ich ein tonloses »Ja« hervor. Tim schien von meiner Antwort überrascht zu sein, obwohl er sie mir regelrecht in den Mund gelegt hatte. Er warf mir einen kurzen betroffenen Blick zu und nickte dabei mechanisch. Dann war er verschwunden.
Getrennte Wege
Ich weiß nicht, wie lange ich da stand und auf die weiße Tür starrte, während meine Gedanken immer wieder die gleichen Stationen abliefen. Mein Ja zu Hannes war die richtige Entscheidung. Tim wollte die volle Familiendröhnung, noch mehr Kinder, ein Häuschen in der Vorstadt, gemeinsame Spieleabende vor dem Kamin. Ich brauchte die Stadt, meinen Beruf, meine Freiheit. Es passte nicht mehr. An irgendeinem Punkt hatten unsere Lebensträume getrennte Wege
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