Seitenwechsel
ob er mich trösten, mich nach einem Streit beruhigen oder mich küssen wollte. Ich fühlte mich gut in seinen Armen, auch jetzt, obwohl wir nur noch Freunde waren. Die Umarmung dauerte länger, als es für Freunde notwendig gewesen wäre, und als ich spontan zu ihm aufsah, berührte meine Stirn sein Kinn. Dann berührten seine Lippen meine Stirn und von da aus waren es nur noch wenige Zwischenschritte, bis meine Lippen seine berührten. Und bevor wir überhaupt merkten, dass das auch durchaus als Kuss bezeichnet werden konnte und damit nicht mehr in die Kategorie Freundschaft fiel, war es schon zu spät. Wir fielen übereinander her und dann vom Sofa. Auf dem Fußboden zogen wir uns so hektisch gegenseitig die Klamotten aus, als wären wir Teenager und unsere Eltern stünden jeden Moment vor der Tür, was sie im Grunde sogar taten. Ein paar Minuten später lagen wir keuchend nebeneinander auf dem Fußboden und starrten verwirrt an die Decke.
»O Gott.« Ich schlug die Hände über meinem Gesicht zusammen und hoffte, ich würde dadurch unsichtbar, so wie Kai es früher immer geglaubt hatte. »Scheiße.«
»Wie romantisch«, schnaufte Tim immer noch außer Atem.
»Das war nicht romantisch, Tim. Das war bescheuert. Was war das überhaupt?«
»Freundschaft?«, erwiderte er und lächelte mich dabei entwaffnend an.
»Das ist nicht witzig!« Ich warf ihm sein T-Shirt an den Kopf, während ich mich hektisch wieder anzog. »Schnell, die anderen können jeden Moment wieder auftauchen.«
»Ich meine, wir haben das gemacht, was deine Mutter von uns verlangt hat. Wir haben uns … versöhnt«, rechtfertigte Tim sich und sammelte eilig seine Sachen zusammen.
Ich sah ihn fassungslos an. »Ich denke, ein einfaches Händeschütteln hätte ihr genügt. Was … was … wie … wie …«
Aber bevor ich den ohnehin nicht gerade durchdachten Satz beenden konnte, hörte ich auch schon einen Schlüssel in der Wohnungstür. Ich schaute Tim entsetzt an, der immer noch mit einem Hosenbein kämpfte, das sich von innen nach außen gestülpt hatte. Jetzt fand er es auch nicht mehr witzig und hüpfte fluchend auf einem Bein umher. Ich warf schnell die Wohnzimmertür zu, und während die Familie samt Anhang in den Flur polterte, half ich Tim mit einer Hand, das Hosenbein richtig zu drehen und knöpfte mit der anderen meine Bluse wieder zu. Tim warf seinen Pullover über und zog dann mit einem beherzten Ruck die Jeans hoch, als meine Mutter auch schon die Tür aufmachte. Ich stellte mich erschrocken vor Tim, der seine Hose unauffällig hinter meinem Rücken zuknöpfte und gleichzeitig meine Bluse aus meinem Gürtel befreite, in dem sie sich verfangen hatte.
»Und, wie sieht es aus?«, fragte meine Mutter erwartungsvoll, um gleich ein enttäuschtes ›Oh‹ hinterherzuschieben, als sie den unfertigen Weihnachtsbaum sah.
»Gut«, lächelte Tim meine Mutter freundlich an.
»Ja, viel besser«, versicherte ich ihr ebenfalls schnell.
Tim sah mich an und zuckte mit den Schultern. »Wir haben miteinander …«
»… geredet«, fiel ich ihm zur Sicherheit ins Wort, weil ich nicht wusste, wie ausführlich er meiner Mutter Bericht erstatten wollte.
»Ja, die ganze Zeit geredet«, bestätigte Tim schnell, und ich befürchtete schon, dass unsere neu gefundene Harmonie meine Mutter misstrauisch machen könnte. Aber sie war zu sehr damit beschäftigt, sich über ihren gelungenen Plan zu freuen.
»Und was ist dabei rausgekommen?«, hakte sie zufrieden nach.
Tja, gute Frage. Mehr als erwartet, auf jeden Fall. Tim und ich sahen uns gegenseitig an, in der Hoffnung, der andere hätte die passende Antwort parat.
»Dass wir es noch mal versuchen wollen«, erklärte Tim schließlich, und ich stimmte ihm schnell zu, bis mir klarwurde, dass ich nicht wusste, was genau wir noch mal versuchen wollten. Meinte er jetzt etwa die Freundschaft, an der wir, wie wir uns gerade eindrucksvoll bewiesen hatten, wohl noch arbeiten mussten? Aber da meine Mutter das als Antwort ausreichte, blieb die Frage ungeklärt. Das war vielleicht auch besser so, denn inzwischen hatten auch Hannes und Sarah das Wohnzimmer betreten und ich fühlte mich schlagartig schlecht. Fast so, als hätten sie uns in flagranti erwischt, wozu nicht viel gefehlt hatte. Tim ging es wohl ähnlich, denn er begrüßte Sarah inniger als nötig. Auch ich wandte mich schnell Hannes zu.
»War es schlimm?«, fragte ich bemüht locker und meinte damit den Weihnachtsspaziergang mit meinen Eltern, die, wie
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