SEK – ein Insiderbericht
betreten haben, taten dies in der Gewissheit, dass der Täter den Bus und alle Insassen durch Zündung des vermuteten Sprengstoffs zur Explosion hätte bringen können. Dass sich diese Gewissheit im Nachhinein als unbegründet herausgestellt hat, ändert nichts an den Voraussetzungen, unter denen wir handelten.
Dies gilt vor allem auch für die Angehörigen des Notangriffsteams, die, obwohl mit noch weniger Informationen versorgt als Otto und ich, doch keine Sekunde gezögert haben, um das Allerschlimmste unter Einsatz ihres Lebens zu verhindern. Ihnen allen gilt mein allergrößter Respekt.
Leider hat es von offizieller Seite niemand für nötig befunden, sich bei den beteiligten Beamten auch nur zu bedanken. Nicht, dass wir so etwas in irgendeiner Weise erwarten würden, aber ich glaube, dass es generell nach Einsätzen, in denen die beteiligten Beamten Leib und Leben über Gebühr riskiert haben, eigentlich eine moralische Verpflichtung für das verantwortliche Ministerium sein sollte, in irgendeiner Weise Anerkennung zu bezeugen. Dass es auch anders geht, machte uns ein Schreiben der japanischen Botschaft deutlich, die sich offiziell für die Rettung von zwei im Bus befindlichen japanischen Staatsangehörigen bei uns bedankt hat. Des Weiteren fanden wir auf den Tag genau ein Jahr nach den hier beschriebenen Ereignissen eine kleine Anzeige in einer großen Tageszeitung:
28. Juli 1995
Geiselnahme auf dem Messegelände
An das SEK und alle, die an dem Tag im Einsatz waren.
DANKE
für die Rettung von 22 Menschen,
für die Bereitschaft, das eigene Leben zu riskieren,
für die selbstlose Hilfe.
C. S. L. K.
Ich glaube, nichts macht die Gründe für den Entschluss deutlicher, SEK-Beamter zu werden und möglicherweise sein Leben zu riskieren.
Das ist es allemal wert!
EIN VERHÄNGNISVOLLER TAG IM JUNI
»Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute, seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.«
George Bernhard Shaw
Wieder einmal sind wir unterwegs zu einem unserer regelmäßigen Schießtrainings, diesmal zu einem Schießstand der Bundeswehr. Auf dem Programm steht das Schießen mit »Langwaffen«, also mit Gewehren. Aufgrund der hohen Durchschlagskraft dieser Waffen ist das Schießen mit ihnen auf normalen Polizeischießständen nicht erlaubt, und wir müssen für unser Training mitunter sehr weite Fahrstrecken absolvieren, um geeignete Übungsstätten zu finden. Keiner von uns ahnt auch nur im Entferntesten, dass dieser Tag das Leben unseres Ausbildungsleiters und meines engen Freundes Piet entscheidend verändern wird. Und nicht nur seines, sondern auch das jedes einzelnen Mannes unserer Einheit.
Piet ist für unser Kommando und auch weit darüber hinaus so etwas wie der einsatztaktische Vordenker. Schon früh hat er, insbesondere nach einem Besuch in den USA Ende der 80er Jahre, dort entwickelte, für die damalige Zeit sehr fortschrittliche Einsatztaktiken in unserer Einheit vorgestellt und gegen allerlei Widerstände auch durchgesetzt. Piet ist von scharfem Verstand, dabei unerschütterlich gutmütig, im Einsatz absolut gelassen, kaltblütig und von großem persönlichem Mut. Und mit seinem unglaublichen (schwarzen) Humor hat er mehr als einmal mein Zwerchfell überbeansprucht. Darüber hinaus hat er keinerlei Respekt vor höheren und höchsten Vorgesetzten, was ihm mehr als einmal entsprechende Konflikte eingebrockt hat. Das ist ihm aber herzlich egal, sein einziges Interesse gilt »seinen Jungs«, sprich: uns, und dass wir durch seine Arbeit auf die schwierigen Einsatzsituationen bestmöglich vorbereitet werden.
Wir beginnen unsere Ausbildung, und Piet erläutert das heutige Trainingsziel: mit der Zielfernrohrvariante des Gewehrs HK G3 12 auf bewegliche Ziele zu schießen. Zu diesem Zweck hat Piet extra einen Karren konstruiert, der eine Zielscheibe aufnehmen und dann mit einem Seilzug manuell hin und her bewegt werden kann. Auf der Schießbahn liegen in einer Entfernung von 75 Metern zum Ziel immer zwei Schützen nebeneinander, die gleichzeitig feuern. Die ersten Durchgänge verlaufen störungsfrei und erfolgreich. Dann ist die Reihe auch an mir, und ich lege mich auf die braune Schießmatte aus bastähnlichem Material. Mein Vorgänger hat mich darüber informiert, dass sich noch fünf Schuss im Magazin befinden und die Waffe
Weitere Kostenlose Bücher