Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
Technik, die er schon als Jugendlicher beim Karate erlernt hatte – eine Art Meditation in Vorbereitung auf einen Kampf. Nur dann, wenn er sich selbst nicht mehr steuerte, seinen Körper einfach agieren ließ, könnte es ihm gelingen, sich in den Täter einzufühlen. Falko öffnete die Augen. Der Täter war also durch das Fenster eingestiegen und hatte sich auf diese Weise Zutritt zum Haus verschafft. Langsam bewegte sich Falko nun Richtung Tür, nahm den Verwesungsgeruch stärker wahr und schloss rasch wieder die Augen. Nein. Dieser Geruch war nicht da, als der Täter ins Haus eingedrungen war. Er musste diesen Sinn ausschalten, seinen Geruchssinn deaktivieren. Zweihundert, zählte er im Geiste, einhundertneunundneunzig, die Schultern sanken wieder tiefer, einhundertachtundneunzig. Er entspannte seinen Unterkiefer und stellte sich vor, wie der Geruch in seiner Nase langsam verblasste und nichts zurückließ, als eine kleine, graue Schicht, die beim nächsten Ausatmen aus seinem Körper stob. Einhundertsiebenundneunzig. Noch war ein Rest des Geruchs vorhanden. Einhundertsechsundneunzig, fünfundneunzig, vierundneunzig, die Wolke wurde immer durchsichtiger, dreiundneunzig, zweiundneunzig, einundneunzig, einhundertneunzig. Falko öffnete langsam wieder die Augen. Nun war der Geruch für ihn nicht mehr wahrnehmbar. Er schlich zum Wohnzimmer hinüber, stellte sich vor, das Geräusch der Tastatur zu hören, die gleichmäßig vom Opfer angeschlagen wurde. Er trat ein, blickte vorsichtig um die Ecke, sah Rebecca Ganter mit dem Rücken zu sich.
»Wer sind Sie und was haben Sie hier im Haus zu suchen?«
Die Stimme riss Falko so heftig aus seiner Suggestion, dass er meinte, ihm würde einen Augenblick lang das Herz stehen bleiben. Schnell drehte er sich um.
»Oh, Entschuldigung. Ich hab sie von hinten nicht erkannt«, stammelte der Polizist.
»Was tun Sie hier?«, entgegnete Falko ungehalten.
»Mein Kollege hat sein Handy verloren. Und da es auf meinem Nachhauseweg liegt, habe ich ihm angeboten, nachzusehen, ob er es bei unserem Einsatz heute Morgen hier verloren hat. Da hab ich das durchtrennte Siegel an der Tür gesehen und dachte, es hätte sich jemand widerrechtlich Zutritt verschafft.«
Falko hatte sich noch immer nicht von dem Schrecken erholt. Außerdem ärgerte er sich, dass er gestört worden war. Sich erneut in den Täter hineinzuversetzen, daran war zumindest im Augenblick nicht mehr zu denken. Er atmete einmal tief durch und bemerkte, wie ihm der Verwesungsgeruch nun allzu deutlich in die Nase stieg. »Vergessen Sie’s. Ich bin hier für den Moment auch fertig.« Er ging dem Beamten entgegen. »Lassen Sie uns gemeinsam hinausgehen.« Sie verließen das Haus.
»Und? Haben Sie es gefunden?«
»Wie bitte?«
»Na, das Handy Ihres Kollegen. Haben Sie es gefunden?«
»Ähm, nein. Ich hab noch nicht mal nachgesehen.«
Falko schloss die Tür von außen ab und klebte zwei neue Siegel über die Türkante.
»Na dann, viel Glück bei ihrer Suche, und ein schönes Wochenende.«
»Danke, Ihnen auch.«
Falko lag eine Erwiderung auf der Zunge, dass es nach dem Leichenfund damit wohl nichts würde, er wollte sich jedoch nicht länger aufhalten. Also nickte er, ging zu seinem Wagen hinüber und begab sich auf den Rückweg.
Er fuhr noch bei Heikes Lieblingschinesen vorbei und holte dort verschiedene Gerichte. Die Enttäuschung, dass ihr Wagen nicht unter dem Carport stand, als er auf ihr Haus zufuhr, hätte größer nicht sein können. Er griff nach dem Buch, das er auf dem Beifahrersitz abgelegt hatte, nahm die Tüte mit dem Essen aus dem Fußraum des Beifahrersitzes und stieg aus. Aus einiger Entfernung hörte er ein Motorengeräusch, reckte den Hals und hoffte, im nächsten Moment Heikes Mini um die Ecke biegen zu sehen. Doch es war nur sein Nachbar, der langsam die Auffahrt hinauffuhr. Falko hob kurz die Hand zum Gruß, drehte sich um und ging ins Haus. Er warf seine Schlüssel in die kleine antike Schale, die auf der Kommode im Flur stand, und betrat die Küche. Den Roman legte er auf den Küchentisch, dorthin, wo Heike immer saß, die Tüte mit dem chinesischen Essen stellte er auf der Küchenzeile ab. Er öffnete den Kühlschrank und nahm sich eine Flasche Mineralwasser heraus. Sie war nur noch halb voll. Also verzichtete er darauf, sich auch noch ein Glas zu holen, setzte die Flasche direkt an seine Lippen und trank sie in einem Zug leer. Ohne sich zu setzen, blätterte er die Tageszeitung durch, sah dabei
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