Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
Hand. Unsere Gene können wir uns nicht aussuchen. Unsere Eltern auch nicht. Wir wählen weder Ort, Zeit und Umstände unserer Geburt noch unsere Muttersprache oder das religiöse beziehungsweise ideologische Konzept, nach dem wir aufgezogen werden. Unser Geschlecht haben wir nicht zur Disposition (obwohl das manche originellerweise glauben), unseren Körperbau, Haar- und Augenfarbe, unsere Erziehung, unsere Herkunft: alles scheint fremdbestimmt. Ja, nicht einmal die Klassenkameraden und die Lehrer können wir bestimmen. Wer sucht sich schon seine Triebe aus oder seine Neigung zur Sucht? Ganz zu schweigen von Neigungen zu psychischen Störungen (sogenannte endogene Krankheiten), das Temperament oder psychische Traumata, die uns in der Kindheit und Adoleszenz widerfahren und uns prägen können. Was kann der Sechsjährige dafür, dass er von seinen Peers gemobbt wird, weil er vielleicht ein Ausländer ist?
Dazu kommt: Es gibt Augenblicke in unserem Leben, da wollen wir wollen, können aber nicht. Es ist manchmal zum Aus-der-Haut-Fahren, wie schwach der menschliche Wille ist. Jeder schlechte Schüler kann ein Lied davon singen, dass »es« irgendwie einfach nicht geht, obwohl die Vernunft »es« augenscheinlich empfiehlt. Daher müssen wir uns – angesichts dieses existenziellen Ausgeliefertseins – wohl der Frage stellen, ob der Mensch überhaupt so frei ist, dass er schuldig werden kann. Ob er tatsächlich für das, was er so den ganzen Tag tut, verantwortlich ist – und damit »selber schuld«. Thomas Mann schildert in seinem mittelalterlichen Roman »Der Erwählte« das erschütternde Schicksal des Gregorius, das uns da einen Schritt weiterhilft.
Die Schuld des Gregorius
Die Zwillinge Sibylla und Wiligis werden vom Vater Herzog Grimald alleine aufgezogen, weil die Mutter bei der Geburt der lange erwarteten Kinder stirbt. Besonders an seiner schönen Tochter hängt der Vater außerordentlich und kann sich nicht lösen. So lehnt er alle Heiratsanträge für seine Tochter kategorisch ab, auch äußerst attraktive. Nach dem Tod des Vaters schließen sich die Zwillinge noch enger aneinander. In einer narzisstischen Selbstverliebtheit haben sie kein Auge und kein Interesse für irgendjemanden außerhalb. Schließlich springt die enge Zuneigung mangels Alternativen in erotische Anziehung um: Wie aus dem Nichts fährt die sexuelle Begierde in die beiden, und Sibylla wird von ihrem Bruder schwanger.
Wiligis und Sibylla werden sich langsam bewusst, was sie getan haben. Verzweifelt und voller Entsetzen vor dem von ihnen begangenen Inzest fragen sie Ritter Eisengrein, einen alten Berater ihres Vaters, um Rat. Der schickt Wiligis zur Sühne seiner Sünden auf den Kreuzzug und nimmt Sibylla wegen der bevorstehenden Geburt auf seine Burg. Wiligis stirbt auf der Fahrt. Sibylla bringt einen Sohn zur Welt, der von Eisengrein in ein Fass gesperrt und im Meer ausgesetzt wird. Sibylla legt dem Kind eine Tafel bei, auf der sie dessen schuldbeladene Geburtsumstände beschreibt.
Das Kind wird von Fischern gefunden, die auf einer Insel wohnen. Der dortige Abt des Klosters »Not Gottes« tauft das Kind auf den Namen Gregorius, kümmert sich um den Knaben und vermittelt ihm ein breites Wissen. Nach einem Streit mit deren Sohn wird ihm von einer eingeweihten Fischersfrau seine Identität als Findelkind enthüllt. Gregorius beginnt zu fragen und erhält vom Abt die Tafel. Nun ist er über seine Herkunft erschüttert und verlässt die Insel. Am Festland kommt er zur Belagerung der Stadt Brügge durch Herzog Roger von Hochburgund-Arelat, der die Herzogin der Stadt Brügge gewaltsam freien möchte. Gregorius schreitet ein, besiegt den Aggressor im Zweikampf und ehelicht die Herzogin. Das ist aber gerade Sibylla, seine Mutter! Beide ahnen nichts von der Verstrickung. Der Inzest wiederholt sich. Zwei Töchter werden gezeugt, deren Vater ihr Bruder ist und deren Mutter die Großmutter. Nach wenigen Jahren glücklicher Ehe findet Sibylla, von einer neugierigen und geschwätzigen Magd darauf hingewiesen, die von ihr verfasste Tafel bei den persönlichen Dingen des Gemahls.
Beide sind zu Tode erschrocken und beschließen, sich sofort zu trennen und zu büßen. Sibylla dankt ab und will bis zu ihrem Tod den Armen und Kranken dienen. Gregorius will sich als Eremit einem Leben in Sühne hingeben, erschüttert über die »Schuld«, die er ohne sein Wissen auf sich geladen hat. Auf einem Stein inmitten eines Sees verbringt er büßend sein
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