Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
gehen.
FALL 20: Aus dem engsten Familienkreis des Psychiaters kann hier über eine nunmehr Dreijährige berichtet werden, die eine Parade-Cholerikerin ist. Es ist ein Genuss, sie mit ihrer Mutter – ebenfalls stark cholerisch, das kann der Psychiater bezeugen, denn er hat sie als seine jüngere Schwester »erzogen« – um einen Sessel streiten zu sehen, obwohl es noch fünf andere gibt. Sie kam zur Welt – und war cholerisch. Das kann nur genetisch sein, denn so schnell kann man gar nicht erziehen. Sie hat das in direkter Erbfolge von ihrem Großvater mütterlicherseits. Von dem wurde übrigens der Psychiater erzogen. Dessen Vater – Großvater des Psychiaters – war ebenfalls cholerisch, aber noch wilder war dessen Vater, der Ururgroßvater des Hauptpersönchens und Urgroßvater des Psychiaters, der angeblich mit 90 Jahren noch Wutanfälle hatte, bei denen er über einen Meter hoch springen konnte.
Unsere kleine Heldin jedenfalls hat durch ihre Gene die Fähigkeit, ihre Linie kompromisslos durchzusetzen und ihre Umgebung weitreichend zu gestalten. Sie bestimmt, wer sie wie lange tragen darf. Und wer nicht. Der Psychiater darf manchmal. Sie informiert ihren Großvater regelmäßig, dass er sie jetzt zu schaukeln habe. Der ist ihr hörig. Ihr erstes willentlich gesprochenes Wort war »Nein!«, und davon macht sie bis heute reichlich Gebrauch. Ihr Spitzname ist »Königin« – der wird aber aus pädagogischen Gründen vor ihr geheim gehalten. (Der Spitzname ihrer Mutter war übrigens analog dazu »Kommandantl«). Die Königin ist sogar auf Fotos cholerisch. Kürzlich beim Abendgebet betete sie fromm für ihre Mutter, dass diese nicht immer »so falsch« mit ihr reden solle – also stimmige Erziehungsmaßnahmen setzen, die Ihrer Majestät aber nicht so schmeckten.
ANALYSE: Sie wird ihren Weg machen. Wie gut, dass sie von Cholerikern erzogen wird.
Für unsere Erziehung können wir auch nichts
»Nature or nurture« lautet die Frage, die in der Wissenschaft in vielen Zusammenhängen immer wieder gestellt wird: Natur oder Erziehung? Anlage oder Umwelt? Wie bedeutsam ist die Rolle der Umwelt für die Persönlichkeitsentwicklung? In den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war die Idee wieder einmal in Mode, der Mensch sei vollständig von seiner Umwelt geprägt. Diese Vorstellungen sind nicht neu: Die »Tabula rasa«-Diskussion findet sich schon bei den alten Griechen. Der Mensch beziehungsweise seine Vernunft ist nach dieser Vorstellung ein unbeschriebenes Blatt, das eben erst durch die Umwelt wird, was es ist. Auch in der frühen Neuzeit kam diese Überzeugung wieder in Mode – besonders prominent etwa im Empirismus eines John Locke. Diese Radikalposition ist jedoch durch die moderne genetische Verhaltensforschung, insbesondere durch die bereits dargestellten Forschungen von Robert Cloninger, obsolet, obwohl bis heute manche Ideologen weiter recht krude Theorien konstruieren, beispielsweise beim Thema Geschlechtsidentität. Auch da behaupten ja manche, zum Beispiel die amerikanische Gendertheoretikerin Judith Butler, entgegen der empirischen Datenlage noch immer mit Simone de Beauvoir, dass das Geschlecht reine Erziehungssache sei.
Aber zurück zur ernsthaften Wissenschaft: Viktor Frankl wehrte sich stets gegen alle Ansätze, die das Leben eines Menschen als logische Konsequenz seiner Kindheitserlebnisse und Kindheitstraumata definieren. Wenn für jeden Mist, den jemand baut, nur die Umwelt verantwortlich ist, macht das den Betroffenen auch nicht glücklicher. So sagte Frankl einmal den Häftlingen des berüchtigten amerikanischen Hochsicherheitsgefängnisses St. Quentin ganz direkt, dass sie an ihrer gegenwärtigen Situation selber schuld seien. Keiner von ihnen sei zwangsläufig hinter Gittern gelandet, weil er durch die Gesellschaft so gemacht wurde. Die Häftlinge applaudierten ihm am Schluss begeistert und erleichtert, da sie immer nur gehört hatten, die Gesellschaft habe sie verpfuscht. Sie begriffen mit den Franklschen Thesen, dass sie tatsächlich Freiheit und Handlungsspielraum besitzen.
Eine interessante Kombinationstheorie bietet der Individualpsychologe Fritz Künkel, der in seinem überzeugenden Werk »Einführung in die Charakterkunde« die Faktoren »endogen« und »exogen« weiter in Beziehung setzt. Er geht von einer genetischen, angeborenen vitalen Stärke oder Schwäche aus, die auf eine rauhe oder weiche Umwelt trifft. Die vitale Stärke ist der Umwelt prinzipiell
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