Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
gewachsen, sie verkörpert Aktivität und Extraversion, während die vitale Schwäche der Umwelt eben nicht gewachsen ist: Passivität und Introversion sind hier das normale Interaktionsmuster. Zu dieser Konstitution gesellt sich jetzt der Umwelteinfluss, der sich zwischen den Extremen »rauhe Umgebung« (strenge, verhärtende, vernachlässigende Erziehung) oder »weiche Umwelt« (weiche, verzärtelnde, verwöhnende Erziehung) entfaltet.
Aus diesem Konstrukt ist letztlich auch das moderne Konzept der Persönlichkeitsstörungen abzuleiten. Bei beiden international gebräuchlichen Klassifikationssystemen psychischer Krankheiten, dem der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und jenem der US-amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie, wird eine Persönlichkeitsstörung als tiefgreifendes Verhaltensmuster definiert, das so gravierend ausgeprägt ist, dass es unangepasst, unflexibel und unzweckmäßig ist. Als Persönlichkeitsstörung – früher wurde das Wort »Psychopathie« verwendet – wird heute also etwas bezeichnet, das unfrei macht, bloße Reaktionsmuster hervorbringt, in festgefahrenen Bahnen agieren lässt ohne die Möglichkeit, sich durch Verhaltensmodifikation besser anzupassen und Vorteile zu erwerben. Was die oben zitierten Gerhard Roth und Wolf Singer – beide sind keine Psychiater – verwechseln, ist die Unfreiheit einer psychisch gestörten mit der begrenzten Freiheit einer normalen Persönlichkeit.
Die amerikanische Klassifikation (DSM-IV-TR) teilt zehn Persönlichkeitsstörungen in drei Cluster ein. Den Cluster A, die paranoide, schizoide, schizotypische Persönlichkeitsstörung, kann man dem phlegmatischen Temperament zuordnen. Umwelteinflüsse wie Erziehung, Peergruppe und Kindheitstraumata können das phlegmatische Kind auf diese pathologischen Entwicklungsschienen verschieben. Innerhalb des Clusters B sind die histrionische und die Borderline-Störung krankhafte und unfreie Fehlentwicklungen des sanguinischen Temperaments, während die narzisstische und dissoziale Persönlichkeitsstörung dem cholerischen Temperament entspringen. Der Cluster C, das sind die selbstunsicheren, dependenten und zwanghaften Persönlichkeitsstörungen, entwickelt sich am ehesten aus dem melancholischen Temperament.
Natürlich sind das keine hundertprozentigen Zuordnungen, denn sowohl die Temperamente als auch die Persönlichkeitsstörungen sind Konstrukte mit fließenden Grenzen – und die Wirklichkeit ist wesentlich bunter. Aber klar ist, was Künkel schon im vorigen Jahrhundert entdeckt hat: Die Umwelt kann nur prägen, was von Natur aus – also genetisch bestimmt – schon da ist. Keine Erziehung kann ein cholerisches Kind phlegmatisch machen. Wohl aber können Eltern ein melancholisches Kind durch übermäßige, ängstliche Kontrolle in die Zwanghaftigkeit treiben oder es andererseits durch eine klare und gelassene Erziehung lehren, mit seinem Temperament richtig umzugehen, um an Freiheit zu gewinnen. Gleichermaßen können die Eltern das sanguinische Kind Wahrhaftigkeit und Nüchternheit lehren oder es andererseits durch übermäßige Bewunderung in die Selbstdarstellung treiben. Bei phlegmatischen Kindern kann die soziale Kompetenz gefördert werden, bei cholerischen die Zügelung des überschäumenden Gemüts. Gelungene Erziehung führt zur Freiheit in Verantwortung, zum gelungenen Umgang mit dem eigenen Temperament.
Viele Patienten – vor allem, wenn sie zu viel psychoanalytische Trivialliteratur konsumiert haben – überschätzen aber die Prägekraft der Umwelteinflüsse in der Kindheit. Manche kommen zum Psychiater und beginnen noch vor der Auftragsklärung – das heißt der Erklärung, was sie denn überhaupt vom Fachmann wollen – mit ihren Kindheitserinnerungen. Dass Ereignisse vor 40 oder mehr Jahren ihr heutiges Problem verursacht haben, steht für sie so zweifelsfrei fest, dass daran nur mit Mühe zu rütteln ist.
FALL 21: Der 55-jährige Frühpensionist Helmut S. kommt »nur für ein paar Therapiestunden« in die psychiatrische Praxis, um herauszufinden, ob der Psychiater ihm noch etwas Neues sagen könne. Er sei bereits sieben Jahre in Psychoanalyse gewesen, natürlich orthodox, dreimal pro Woche, liegend, und wisse im Grunde alles über sich.
Bei unserem Psychiater nimmt er dann doch mit der sitzenden Position vorlieb – und der Psychiater darf ihm auch ins Gesicht sehen. Herr S. sei wegen einer Sozialphobie seit zehn Jahren in Pension, da er in seiner Kindheit von seinen Eltern
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