Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
antisozialen und unmoralischen – Verhaltensweisen lassen sich als Versagen oder Unterentwicklung der Selbstkontrollfähigkeit erklären. Todsünden lassen sich als Schwäche und Schwächung zugleich beschreiben: Wir werden schwach angesichts vielfältiger Versuchungen, und unsere Widerstandskräfte, unsere ›moralischen Muskeln‹, werden systematisch geschwächt.«
Auf den Helden dieses Kapitels, Richard York, angewandt, können wir unumwunden sagen, dass Richard auch anders gekonnt hätte. Wenn er gewollt hätte. Er hätte das alles eben nicht so tun müssen, wie er es getan hat. Er hat sich frei dazu entschieden, ein »Bösewicht« zu sein, das heißt, sich gegen seine eigenen moralischen Prinzipien zu stellen.
Der Charakter und wie sich dieser bildet
Was sagt jetzt die Neurowissenschaft zu unserem Fünf-Uhr-Morgen-Experiment? Robert Cloninger, der die Lehre von den Temperamenten durch seine genetischen Studien auf eine valide Basis gestellt hat, hat im Rahmen seiner späteren Forschungen festgestellt, dass Patienten mit Persönlichkeitsstörungen sich in seinem Temperamentstest nicht von Normalpersonen in ihren Persönlichkeitsmerkmalen unterschieden. Das bedeutet, dass die Testpsychologie der Temperamente noch nicht krank von gesund unterscheiden kann, unfrei von frei, reife Persönlichkeiten von unreifen. Im Rahmen seiner Forschungen fand der Wissenschaftler heraus, dass die vier Dimensionen des Temperaments in erster Linie die phylogenetisch ältesten Hirnareale, nämlich das kortikostriatale und das limbische System, abbilden. Deshalb erarbeitete er zusätzlich die »drei Dimensionen des Charakters«: innere Ordnung (Self-Directedness), Kooperationsfähigkeit und Selbsttranszendenz. Sie repräsentieren die phylogenetisch jüngeren Hirnareale, nämlich den frontalen, temporalen und parietalen Neokortex. Diese Hirngebiete erst unterscheiden den Menschen vom Affen. Sie machen den Menschen zu dem, was er ist.
Die Dimension der inneren Ordnung unterscheidet bei Cloninger »verlässlich« und »sachlich« von »beschuldigend« und »planlos«, die Kooperationsfähigkeit kennzeichnet Eigenschaften wie »tolerant«, »hilfsbereit«, »teamfähig« im Gegensatz zu »voreingenommen« und »rachsüchtig«, während Selbsttranszendenz »selbstvergessen« und »spirituell« im Kontrast zu »selbstbezüglich«, »ichhaft« und »materialistisch« meint. Ordnung ist hier das Schlüsselwort, denn Kooperationsfähigkeit ist die Ordnung in den Beziehungen – Selbsttranszendenz entspricht der Einordnung in ein kosmisches Ganzes.
Damit ist vor allem eines gesagt: Der Mensch ist aus naturwissenschaftlicher Sicht letztlich doch frei. Er hat mit dem Neokortex das Potenzial zur Selbstprägung bekommen, das Potenzial, in sich und um sich herum Ordnung zu verwirklichen – oder eben nicht. Und genau darin besteht ja die Freiheit des Menschen. Während seine Neigung zu Schadensvermeidung, Neugierde und Abhängigkeit von Belohnung größtenteils genetisch geprägt ist (Dimensionen des Temperaments), ist es seine persönliche Entscheidung, ob er selbstvergessen, hilfsbereit und tolerant handeln will oder eher fremdbeschuldigend, voreingenommen und rachsüchtig (Dimensionen des Charakters).
Hier ist plötzlich wieder – inmitten von trockenen Forschungsdaten – die Schuldfähigkeit des Menschen neurobiologisch dokumentiert. Zwischen grauen Ordnern von komplizierten statistischen Untersuchungen taucht plötzlich glasklar die Freiheit des Menschen auf, die menschliche Fähigkeit, sein Schicksal in die Hand zu nehmen, seinen Charakter zu formen. Und auch der Mut zur Selbsterkenntnis – keiner gibt gerne zu, fremdbeschuldigend, voreingenommen und rachsüchtig zu sein – ist letztlich ein freier Willensakt, der die unangenehmen Einsichten aus dem Halbdunkel des Bewusstseins holt oder ins Unbewusste versenkt. Während die vier Dimensionen des Temperaments einen genetisch-biologischen Ist-Zustand dokumentieren, sind die drei Dimensionen des Charakters unserem freien Willen zugänglich. Ist also doch »jeder seines Glückes Schmied«, wie ein altes Sprichwort weiß?
FALL 22: Ein hochherziger 45-jähriger cholerischer Familienvater von drei pubertierenden Kindern läuft am frühen Nachmittag aus dem Haus, um mit dem Fahrrad eine wichtige und dringende Besorgung zu machen. Doch das Rad ist weg! Das Fahrrad des Sohnes hat zudem einen Platten, die Tochter ist erlaubterweise mit dem Auto unterwegs. Ein Wutanfall kündigt sich mit
Weitere Kostenlose Bücher