Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
allen dazugehörigen körperlichen Symptomen an. Doch dann denkt der Mann an seinen unverheirateten Bruder, der sehr darunter leidet, allein zu sein. Und er sagt sich: »Gott sei Dank bin ich nicht allein! So etwas kann nur passieren, wenn man Kinder hat.« Die gefährlichen körperlichen Symptome gehen augenblicklich zurück. Und in aller Ruhe ruft er sich ein Taxi und erledigte den Einkauf. Am Abend setzt er dem Sohn gelassen auseinander, dass das väterliche Fahrrad nicht automatisch das Ersatzrad des Sohnes sei. Der Sohn ist von der ungewöhnlichen Souveränität des Vaters beeindruckt – und flickt den Reifen seines Fahrrades.
ANALYSE: Hier wird ein gelungener Umgang mit dem eigenen (cholerischen) Temperament veranschaulicht. Durch die Entscheidung, die positive Dimension der zugegebenermaßen lästigen Situation betrachten zu wollen, gewinnt der Vater an Handlungsspielraum und Freiheit.
Diese neuen Erkenntnisse decken sich mit der therapeutischen Intuition von Fritz Künkel, der neben der Genetik (»vitale Stärke oder Schwäche«) und der Umwelt (»rauhe und weiche Umgebung«) für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen die persönliche Entscheidung, sachlich (gesund) oder »ichhaft« (neurotisch) zu denken, für entscheidend hält. Bei einer »Ichhaftigkeit« können sich je nach biologischer Konstitution und Umwelt vier Pathologien entwickeln, die er recht anschaulich »Cäsar«, »Tölpel«, »Heimchen« und »Star« nennt. Der Cäsar-Typ entwickelt sich, wenn vitale Stärke auf eine rauhe Umwelt trifft, etwa auf Härte in der Erziehung. Seine Lebensstil-Tendenz wäre: »Andere sind meine Feinde, ich muss sie niederkämpfen, wenn ich etwas gelten will.« Cäsar-Verhalten äußert sich in Heftigkeit, Rücksichtslosigkeit, Tyrannei, Strebertum und Egoismus. Beim Tölpel trifft vitale Schwäche auf eine rauhe Umwelt. Seine Lebensstil-Tendenz wäre: »Andere sind meine Feinde, ich habe nichts auf dieser Welt zu erwarten.« Tölpel-Verhalten wäre geprägt von Pessimismus, Unterwürfigkeit, demonstrativer Dummheit und Ungeschicklichkeit. Beim »Heimchen« ist vitale Schwäche in Kombination mit weicher Umwelt und Erziehung prägend für die Lebensstil-Tendenz: »Andere sind meine Diener, sie helfen mir aber nicht immer, ich muss etwas dafür tun.« Der Heimchen-Charakter zeigt Labilität, Willigkeit, Ängstlichkeit, Schmeichelei, Zaghaftigkeit, Weinerlichkeit, Anlehnungsbedürfnis und Flucht in die Krankheit. Der Star (vitale Stärke in Kombination mit einer weichen Umwelt und Erziehung) hat die Lebensstil-Tendenz: »Andere sind meine Diener. Ich habe nichts zu befürchten. Sie müssen mir helfen.« Sein Verhalten beziehungsweise Charakter äußert sich in Stolz, Eitelkeit, Egoismus, Primadonnengehabe, Eifersucht und Geltungsbedürfnis. Diese vier Gesichter der Ichhaftigkeit sind über die Individualpsychologie hinaus bekannt geworden und in der Psychotherapie brauchbare Tools.
Immanuel Kant hat lange vor Cloninger das Temperament vom Charakter abgegrenzt. Er wird deswegen auch gerne von dem amerikanischen Genetiker zitiert. Charakter ist nach Kant, was man selbst aus dem eigenen Temperament macht: »Einen Charakter aber schlechthin zu haben, bedeutet diejenige Eigenschaft des Willens, nach welcher das Subjekt sich selbst an bestimmte praktische Prinzipien bindet, die er sich durch seine eigene Vernunft unabänderlich vorgeschrieben hat.« Anders ausgedrückt: Die biologische »Identität« als Temperament ist Ausgangsbasis, kein deterministisches Schicksal. Durch Selbsterkenntnis und den freien Willen ist auch eine beständige Verhaltensmodifikation vieler unserer sozialen Reflexe möglich: das Endergebnis ist der Charakter. Das hat Cloninger durchgängig wissenschaftlich bewiesen. Das ist auch die Basis für jede Psychotherapie – und jede menschliche Bekehrung.
Eigentlich ist dieses Forschungsergebnis sogar schon seit der Antike bekannt: Der Mensch gewinnt an Handlungsfreiheit durch Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß – durch die vier Kardinaltugenden, die schon Aristoteles kannte. Eine Definition von Tugend lautet: die Fähigkeit und innere Haltung, das Gute mit innerer Neigung, also leicht und mit Freude, zu tun. Laut Aristoteles ist die Tugend der Weg zur Glückseligkeit. Die Glückseligkeit wird hier aber nicht verstanden als subjektives Glücksgefühl, sondern als geglücktes Leben. Wann aber glückt das Leben? Dann, wenn der Mensch die Möglichkeiten verwirklicht, die in ihm
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