Selbs Betrug
wiedertreffen?
Nach dem Tee führte Tyberg Leo und mich durch den Garten, der hinter dem Haus weit den Berg hinaufreicht. In seinem Arbeitszimmer zeigte und erklärte er uns den Computer, an dem seine Erinnerungen entstanden, und erzählte von der Suche nach dem richtigen Titel. Ein Leben in der chemischen Industrie und für sie – mir fiel nur Zwischen Pech und Schwefel ein, aber das erinnerte ihn unangenehm an Jesus Sirach Kap. 13, Vers 1. Im Musikzimmer holte er für mich die Flöte aus dem Schrank, setzte sich an den Flügel, und wir spielten die a-Moll-Suite von Telemann und danach, wie schon einmal, die h-Moll-Suite von Bach. Er war viel besser als ich, und es ging holprig los. Aber er wußte, wo er meinetwegen verlangsamen mußte, und bald erinnerten sich meine Finger der ehedem oft geübten Läufe. Vor allem verstanden wir beide Bach so, wie man ihn nur verstehen kann, wenn man auf die Siebzig geht. Daß wir einander darin selbstverständlich und beglückend trafen, ließ mich schon denken, daß ich mir die atmosphärischen Störungen nur eingebildet hatte. Aber nach dem Abendessen brach das Gewitter los.
Mit dem vollen weißen Haar, dem grauen Vollbart und den buschigen Augenbrauen kann Tyberg wie ein Staatsmann im Ruhestand, ein visionärer russischer Dissident oder ein Weihnachtsmann nach Feierabend aussehen. Jetzt musterten mich seine braunen Augen mit strengem Blick. »Ich habe mir lange überlegt, ob ich mit Ihnen unter vier Augen darüber reden soll. Vielleicht würde es die Angelegenheit leichter machen. Vielleicht aber auch schwerer, und außerdem will ich mich nicht fragen müssen, ob ich mich gedrückt habe.« Er stand auf und ging hinter dem Tisch auf und ab. »Haben Sie gedacht, daß es hier kein deutsches Fernsehen gibt? Daß Sie im Tessin einfach ein alter Mann und ein junges Mädchen sein können, Vater und Tochter oder Großvater und Enkelin? Und bei mir Onkel Gerd mit seiner jungen Freundin?« Als ihren Onkel Gerd hatte mich Judith ihm einstmals vorgestellt, und ich war’s für ihn geblieben, obwohl er längst wußte, daß es damals nur um ein Inkognito gegangen war. »Locarno ist verkabelt, und ich empfange dreiundzwanzig Programme. Ich bin hier nicht der einzige, der die Tagesschau sieht, hier leben Hunderte von Deutschen. Gut, Fahndungsphotos geben ohnehin ein falsches Bild, und das blonde Haar verändert einigermaßen, aber ich habe Sie«, er richtete seinen strengen Blick auf Leo, »nach einer Viertelstunde erkannt. Ich bin hier auch nicht der einzige, der Menschen gerne genau anschaut. Hier leben viele Künstler, Maler, Schauspieler, alles Leute, bei denen es einfach dazugehört, genau hinzuschauen. Nein, es war eine verrückte Idee, hierherzukommen.«
»Es war meine Idee.«
»Das ist mir klar, Onkel Gerd, und ich mache ihr auch keinen Vorwurf. Ich mache ihr … mache Ihnen auch keinen Vorwurf wegen der Tat, deretwegen man Sie sucht. Noch handelt es sich nur um eine Anschuldigung und nicht um eine Verurteilung. Ich bedaure, daß ich schroff bin.« Tyberg lächelte Leo kurz an. »In meinem Alter möchte man zu jungen Damen besonders charmant sein. Aber die Sache ist zu wichtig. Sie hat auch mit unserer alten Geschichte zu tun – hat er Ihnen erzählt, woher wir uns kennen?«
Leo schüttelte den Kopf. Ich bewunderte sie sehr. Sie saß gelassen da und sah Tyberg aufmerksam und ein bißchen verwundert zu. Sein Lächeln erwiderte sie weder mit einem eigenen, noch wies sie es mit hartem Blick zurück. Sie wartete. Gelegentlich machten sich die Hände mit einer Zigarette zu schaffen oder strichen Krümel vom weiten, langen weißen Sommerrock.
»Das mag auch auf sich beruhen. Ich werde es wie die Beduinen halten. Drei Tage sind Sie mein Gast. Am Samstag verlassen Sie bitte mein Haus.«
Auch ich stand auf. »Ich wollte Sie nicht in Gefahr bringen, Herr Tyberg. Es tut mir leid, wenn …«
»Daß Sie das nicht verstehen können. Es geht nicht um die Gefahr. Ich will mit dieser Flucht nichts zu tun haben. Frau Salger wird von der Polizei gesucht, sie gehört vor Gericht gestellt und dort verurteilt oder freigesprochen. Ich will gerne mit Ihnen wünschen, daß das Urteil auf Freispruch lautet. Aber es ist nicht meine und es ist auch nicht Ihre Sache, Onkel Gerd, der Polizei und dem Gericht ins Handwerk zu pfuschen.«
»Und wenn die ihr Handwerk nicht verstehen? Bei dem Ermittlungsverfahren stimmt was nicht. Zuerst suchen sie Leo, ohne zu sagen, warum. Dann gehen sie in die öffentliche
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