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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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entvölkerte sich die Terrasse. Wir setzten uns auf die Bank im Windschatten der Hauswand, um die Flasche zu leeren. Vully – ein ländlicher Wein ohne Floskeln und Schnörkel, den ich noch nicht gekannt hatte. Der Mond war aufgegangen und spiegelte sich im See. Mich fröstelte, und Leo kuschelte sich wärmend und wärmesuchend an mich.
    »In den letzten Jahren seines Lebens redete mein Vater nicht mehr. Ich weiß nicht, ob er nicht konnte oder nicht wollte – es kam wohl beides zusammen; Ich erinnere mich, daß ich zunächst noch gelegentlich versuchte, ein Gespräch mit ihm zu führen, daß ich ihm was erzählte oder ihn was fragte. Ich hoffte, er würde mich mehr über sich wissen lassen. Es kam auch vor, daß er zu sprechen versuchte und nur ein Krächzen rausbrachte. Meistens sah er mich nur an, mit einem schiefen Lächeln, das um Entschuldigung bat und um Nachsicht, aber vielleicht war’s auch von einem kleinen Schlaganfall. Später saß ich einfach an seinem Bett, hielt seine Hand, sah aus dem Fenster in den Garten und hing meinen Gedanken nach. Da habe ich das Schweigen gelernt. Und lieben gelernt.«
    Ich legte den Arm um ihre Schulter.
    »Eigentlich waren das schöne Stunden. Für ihn und für mich. Sonst war’s die Hölle.« Sie holte das Zigarettenpäckchen aus meiner Jackentasche, zündete sich eine an und rauchte in tiefen Zügen. »Vater konnte in den letzten Jahren seine Pisse und Scheiße nicht mehr halten. Der Arzt sagte, es sei nicht organisch, sondern psychisch bedingt, und er hat’s auch Vater gesagt. Das war, als es noch nicht so schlimm war; er wollte ihm helfen, ihm einen heilsamen Schock versetzen, aber er hat das Gegenteil erreicht. Vielleicht wollte Vater beweisen, daß er wirklich nicht anders kann. Es wurde ein Ritual zwischen Mutter und ihm, wie ein letzter Tanz, den zwei miteinander tanzen, ehe sie hingerichtet werden, weil sie miteinander ein Verbrechen begangen haben. Er machte ins Bett, und sein Stolz und seine Würde litten darunter, und sie machte ihn sauber und das Bett frisch, mit abgewandtem, angeekeltem Gesicht, und er wußte, daß sie ihn verabscheute, daß sie aber auch nicht davon lassen würde, ihn zu versorgen, obwohl sie langsam kaputtging. Ich scheiß auf dich, wollte er ihr sagen, aber er konnte es nur, indem er sich selbst vollschiß, und sie konnte ihm nur zeigen, daß er ein kläglicher Scheißer ist, indem sie sich mit seiner Scheiße plackte.«
    Später kam sie noch mal darauf zurück. »Als kleines Mädchen wollte ich meinen Vater heiraten. Wollen alle. Dann, als ich lernte, daß das nicht geht, wollte ich einen wie meinen Vater. Weißt du, ich hab immer ältere Männer gemocht. Aber die letzten Jahre mit Vater … Wie häßlich war alles geworden, wie gehässig, gemein, schmutzig …« Sie sah mit großen Augen an mir vorbei. »Manchmal kam Helmut mir vor wie ein Engel mit flammendem Schwert, zerstörend, richtend, reinigend. Du wolltest doch wissen, ob ich ihn geliebt habe. Ich habe den Engel geliebt und manchmal gehofft, daß er mit seinem Schwert meine Angst wegbrennt. Aber vielleicht war die Hitze zuviel. Ich habe … habe ich ihn verraten?«
    Engel schießen nicht auf Sofas und Katzen. Ich sagte es ihr, aber sie hörte mich nicht.

35
Schuster, bleib bei deinem Leisten?
    Aus Niedersteinbach hatte ich in Locarno angerufen. Tyberg freute sich. »Sie bringen eine junge Dame mit? Der Butler wird zwei Zimmer richten. Nein, da gibt’s keine Widerrede, Sie wohnen nicht im Hotel, Sie wohnen bei mir.« Wir erreichten seine Villa Sempreverde in Monti über Locarno zum Fünfuhrtee.
    Serviert wurde in der Gartenlaube. Tisch und Bänke waren aus Granit und in der Hitze des sommerlichen Nachmittags angenehm kühl. Der Earl Grey duftete kräftig. Die Patisserie schmeckte köstlich, und Tyberg war von der ausgesuchtesten Aufmerksamkeit. Trotzdem – irgend etwas stimmte nicht. Tybergs Aufmerksamkeit war so förmlich, daß sie bemüht und distanziert wirkte. Ich verstand das nicht, am Telephon war er herzlich gewesen. Lag’s daran, daß Judith Buchendorff, Tybergs Sekretärin und Assistentin, die ich kaum länger, aber besser als ihn kenne, nicht da, sondern zu Recherchen für seine Memoiren unterwegs war? Oder stand zwischen ihm und mir die Fremdheit, die zwischen Menschen steht, die unter bestimmten Umständen füreinander wichtig geworden sind, aber eigentlich nichts miteinander zu schaffen haben? Waren wir wie Urlauber, Klassen- und Kriegskameraden, die sich

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