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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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vor der Wand knickte ihr Flug plötzlich ruckhaft ab und stieß in die Leere der Nacht.
    Am nächsten Morgen war ich allein. Leos Sachen waren nicht mehr im Zimmer. Ich suchte vergebens nach einem Brief. Erst später fand ich in meinem Geldbeutel statt der vierhundert Franken, die ich in Murten eingewechselt hatte, den Zettel. »Ich brauch das Geld. Du kriegst es wieder. Leo.«

ZWEITER TEIL

1
Letzter Dienst
    Auf der Heimfahrt hatte ich einen Kater. Drei Tage Sonne und Wind und Leo neben mir – das war mir zu Kopf gestiegen.
    So habe ich das Buch der Reise mit Leo entschlossen zugeklappt und weggelegt. Es war ohnehin ein dünnes Büchlein; am Dienstagmorgen hatte ich sie in Amorbach getroffen, am Freitagabend war ich wieder in Mannheim. Hier allerdings fühlte ich mich, als sei ich Wochen fort gewesen. Der viele Verkehr, das Gedränge und Geschiebe der Fußgänger, der Baulärm allenthalben, das große, öde Schloß, in dem eine Universität sein soll, der renovierte Wasserturm, fremd wie Frau Weiland von nebenan, wenn sie aus dem Frisier- und Kosmetiksalon kommt, meine Wohnung, in der es nach abgestandenem Rauch roch – was wollte ich hier? Wäre ich nicht besser von Locarno nach Palermo gefahren, auch ohne Leo, und von Sizilien nach Ägypten geschwommen? Sollte ich mich wieder ins Auto setzen?
    Die Zeitungen, die sich während meiner Abwesenheit angesammelt hatten und vom terroristischen Anschlag auf eine amerikanische Militäreinrichtung, von Leos Versteck im Psychiatrischen Landeskrankenhaus, von Wendts Rolle dabei und von seinem Leben und Sterben berichteten, hatte ich rasch gelesen. Sie sagten mir nichts, was ich nicht schon wußte. Die Samstagszeitung meldete, daß Eberlein vorläufig seines Postens enthoben war und daß jemand aus dem Ministerium die Leitung kommissarisch übernommen hatte. Ich nahm’s zur Kenntnis. Auch daß Brigitte mit mir unzufrieden war, nahm ich zur Kenntnis.
    Auf der Post hing das Fahndungsplakat, wie Leo erwartet hatte. Seit mit dem Terrorismus die Fahndung per Plakat wieder in Gebrauch gekommen ist, die ich nur aus Wildwestfilmen kannte, warte ich darauf, daß eines Tages ein Rauhbein mit klirrenden Sporen, Satteltasche über der Schulter und Colt an der Hüfte in die Post tritt, vor dem Fahndungsplakat stehenbleibt, es studiert, abnimmt, zusammenrollt und einsteckt. Wenn dann die Tür hinter seinem schweren Schritt zufällt, stürzen wir verblüfften Postkunden ans Fenster, um ihn sich aufs Pferd schwingen und die Seckenheimer Straße hinuntergaloppieren zu sehen. Auch diesmal wartete ich darauf vergebens. Dafür kamen mir ein paar Fragen und Antworten. Wenn die beiden Toten zu den Attentätern gehörten – wie wußte die Polizei, daß sie nach Leo zu fahnden hatte? Um von Leo zu wissen, mußte sie einen Attentäter gefaßt und zum Reden gebracht haben. Warum wußte die Polizei von Leo, nicht aber von den anderen Attentätern? Sie mußte den und nur den gefaßt und zum Reden gebracht haben, der nach Leos Auskunft gerade aus der Toskana zurückgekommen war: Bertram. Er konnte von Lemke und dem fünften Mann nur schlechte Beschreibungen geben, nach denen die Polizei für die Fahndung schlechte Phantombilder gemacht hatte. Der andere, Giselher, mußte tot sein.
    Aber was mich an diesem Wochenende wirklich berührte und beschäftigte, war mein Fern- und Heimweh. Fernweh ist die Sehnsucht nach einer neuen Heimat, die wir noch nicht kennen, Heimweh die Sehnsucht nach der alten, die wir nicht mehr kennen, auch wenn wir meinen, wir täten es. Was soll eigentlich diese Sehnsucht nach dem Unbekannten? Und was wollte ich überhaupt – wegfahren oder zurückkommen? Mit diesen Gedanken spielte ich, bis mir die Zahnschmerzen die Flausen austrieben. Sie begannen am Samstagabend mit leisem Pochen, als im Spätfilm Doc Holliday von Fort Griffin nach Tombstone ritt. Als nach den letzten Nachrichten die Kamera zu den Klängen des Deutschlandlieds ihren Weg um Helgoland herum und über Helgoland hinweg nahm, pulste der Schmerz bis zur Schläfe und hinter das Ohr. Das Zahnwrack an Helgolands Ostspitze demoralisierte mich nachhaltig. Könnten wir Helgoland doch wieder gegen Sansibar tauschen!
    Seit mein alter Zahnarzt vor zehn Jahren gestorben ist, war ich bei keinem neuen. Aus dem Branchenverzeichnis wählte ich einen zwei Ecken weiter aus. Nach einer schmerzwachen Nacht ließ ich am Montagmorgen ab halb acht alle fünf Minuten das Telephon klingeln. Um Punkt acht meldete sich eine kühle

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