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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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Fahndung und reden von einem Anschlag, der vor Monaten war, als sei er gestern gewesen. Und sie bringen Leute, Gesichter mit hinein, die gar nichts damit zu tun haben. Nein, Herr Tyberg, da geht was nicht mit rechten Dingen zu.« Ich war mir bei Tybergs Worten zunächst gedanken- und rücksichtslos vorgekommen. Zwar sah ich keine echte Gefahr für ihn, aber es kam nicht auf meine, sondern auf seine Sicht der Dinge an. Ich hatte seine Vorwürfe einfach akzeptieren wollen. Jetzt nahm das Gespräch eine ganz andere Wendung.
    »Das haben Sie doch nicht zu beurteilen. Dafür gibt es Vorgesetzte und Instanzenzüge und Untersuchungsausschüsse und …«
    »Soll ich den Kopf in den Sand stecken? An der Sache stinkt etwas, und was die Polizei macht, ist alles andere als koscher. Lassen Sie sich mal erzählen, wie …«
    »Nein, ich will das jetzt nicht hören. Selbst wenn alles stimmt, was Sie befürchten – haben Sie mit den Vorgesetzten der Polizisten gesprochen, die sich falsch verhalten haben? Waren Sie bei Ihrem Abgeordneten? Haben Sie sich schon mit der Presse in Verbindung gesetzt? Natürlich sollen Sie den Kopf nicht in den Sand stecken. Aber Sie sollen sich doch nicht anmaßen …«
    »Anmaßen?« Ich wurde böse. »Ich bin viel zu oft bei meinem Leisten geblieben. Als Soldat, als Staatsanwalt, als Privatdetektiv – ich habe gemacht, was man mir gesagt hat, daß es mein Handwerk ist, und habe den anderen nicht in ihres gepfuscht. Wir sind ein ganzes Volk von Schustern, die bei ihrem Leisten bleiben, und schauen Sie sich an, wohin uns das gebracht hat.«
    »Sie meinen das Dritte Reich? Wenn doch nur alle bei ihrem Leisten geblieben wären! Aber nein, den Ärzten genügte es nicht, Kranke gesund zu machen, sondern sie mußten Volks- und Rassehygiene treiben, die Lehrer haben, statt Lesen und Schreiben und Rechnen zu lehren, den Wehrwillen stärken wollen, die Richter haben nicht nach dem Recht, sondern danach gefragt, was dem Volk nützt und was der Führer will, und die Generäle – ihr Geschäft ist, Schlachten zu schlagen und zu gewinnen und nicht, Juden und Polen und Russen zu verschleppen und zu erschießen. Nein, Onkel Gerd, wir sind kein Volk von Schustern, die bei ihrem Leisten bleiben, leider Gottes nicht.«
    Leo fragte: »Und die Chemiker?«
    »Was ist mit den Chemikern?«
    »Ich möchte wissen, was nach Ihrer Auffassung im Dritten Reich der Leisten der Chemiker war und ob sie bei ihm geblieben sind.«
    Tyberg sah Leo mit gerunzelter Stirn an. »Ich denke darüber nach, seit ich an meinen Erinnerungen sitze. Ich neige zu der Auffassung, daß beim Chemiker das Labor der Leisten ist. Aber das würde heißen, daß immer die anderen verantwortlich sind und wir Forscher nie schuldig werden, und ich sehe den Haken daran, besonders wenn es aus dem Mund eines Chemikers kommt.«
    Eine Weile sagte keiner etwas. Der Butler klopfte und räumte ab. Leo bat ihn, an den Koch ein Kompliment für die Maisplätzchen mit Ochsenschwanz und grünem Paprika weiterzugeben, die als Vorspeise serviert worden waren. »Polenta-Medaillons«, korrigierte er geschmeichelt, denn er selbst war der Koch und die Renaissance der Polenta als kulinarische Delikatesse sein besonderes Anliegen. Zum Digestif bat er in den Salon.
    Leo stand auf, kam zu mir und sah mich fragend an. Ich nickte. »Du brauchst nicht mit hochzukommen, Gerd, ich packe deine paar Sachen ein.« Sie gab mir einen raschen Kuß, und ich hörte ihren Schritten nach. Die nackten Füße klatschten auf die Steinfliesen der Treppe. Im nächsten Stock knarrten die Dielen.
    Tyberg räusperte sich. Er stand hinter seinem Stuhl, den Rücken gebeugt und die Hände auf die Lehne gestützt. »Wir in unserem Alter lernen nicht mehr so viele Menschen kennen und schätzen, daß wir uns leisten könnten, sie so einfach zu verlieren. Ich bitte Sie herzlich, jetzt nicht abzureisen.«
    »Ich reise nicht im Zorn ab. Ich komme auch gerne wieder. Aber Leo und ich – wir gehören wirklich ins Hotel.«
    »Lassen Sie mich mit ihr reden.« Er ging und kam nach einer Weile mit Leo. Sie sah mich wieder fragend an, und ich lächelte fragend zurück. Sie zuckte mit den Schultern.
    Wir verbrachten den Abend auf der Terrasse. Tyberg las aus seinen Erinnerungen vor, und Leo erfuhr, wie sich im Krieg sein und mein Weg gekreuzt hatten. Die Kerze, in deren Licht Tyberg las, flackerte. Ich konnte den Ausdruck in Leos Augen nicht deuten. Manchmal rauschten über uns Fledermäuse. Sie flogen aufs Haus zu, und

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