Selbs Betrug
eröffnet hatte. Als ich Leo an der Zimmertür eine gute Nacht wünschte, gab sie mir einen Kuß.
Wir brauchten zwei Tage bis Locarno. Wir mäanderten durch die Vogesen und den Jura, wechselten von deren französischer auf die Schweizer Seite, übernachteten in Murten und lernten Pässe kennen, deren Namen ich noch nie gehört hatte: Glaubenbüelenpaß, Brünigpaß, Nufenenpaß. Auch in den Bergen war es schon so warm, daß wir mittags die Decke ausbreiten und Picknick machen konnten.
Auf der Fahrt redete Leo über tausenderlei verschiedene Sachen, vom Studieren und Dolmetschen über die Politik bis zu den Kindern, die sie in Amorbach betreut hatte. Sie stemmte die Beine gerne gegen das Handschuhfach oder streckte den rechten Fuß sogar zum Fenster hinaus. Sie stellte am Radio ein Programm zusammen, das von klassischer Musik bis zu amerikanischen Schlagern reichte und in der Schweiz den Landfunk einschloß. Von neun bis zehn Uhr wurde in Mundart aus Gotthelfs Uli der Knecht vorgelesen. Da war die Welt noch in Ordnung, bei den amerikanischen Schlagern stand sie kopf; die Männer säuselten, die Frauen hatten Metall in der Stimme. Leo pfiff die Melodien mit. Sie sah sich die Landschaft und Städte, durch die wir fuhren, genau an. An beiden Tagen schlief sie nach dem Mittagessen im Sitzen ein. Gelegentliches Schweigen zwischen uns war nicht unangenehm. Ich ließ meine Gedanken schweifen. Manchmal mußte ich Leo etwas fragen.
»Hast du vom Psychiatrischen Landeskrankenhaus aus rauskriegen können, was in der Nacht schiefgelaufen ist und was mit den anderen passiert ist?« In der Solidarität des morgendlichen dicken Kopfes hatten wir begonnen, uns zu duzen.
»Ich hab’s immer wieder versucht. Was meinst du, wie gerne ich gehört hätte, daß alles nur blinder Alarm war. Aber ich hab Giselher und Bertram nie erreichen können, wann ich auch angerufen habe, und ihre Freunde anzurufen war mir zu heikel.«
Ich erinnerte sie daran, daß zwei Tote gemeldet worden waren. »Es wird auch nur nach euch drei gefahndet, obwohl fünf am Anschlag beteiligt waren.«
»Uns drei? Auf dem einen Bild, das bin ich, aber wer sind die anderen beiden?« Sie vertiefte sich in den ›Boten vom Untermain‹. »Schau dir das Bild mal genau an!« Sie zeigte auf einen der beiden Männer, die mit ihr abgebildet waren. Ich fuhr rechts ran und hielt. »Irgendwie erinnert er mich an Helmut. Er ist es nicht, aber er erinnert mich an ihn. Verstehst du das?«
Sie hatte recht. Es gab eine ferne Ähnlichkeit. Oder wird jedes Bild irgend jemandem ähnlich, wenn man es lange genug anschaut? Auch beim zweiten der beiden Männer kamen mir auf einmal manche Züge vertraut vor.
Irgendwo in den Bergen des Jura fragte sie mich, ob Rolf Wendts Tod nicht ein Unfall gewesen sein könne.
»Hast du Angst, daß Helmut ihn umgebracht haben könnte?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend jemand Rolf umgebracht hat. Feinde, wie man so sagt – ich möchte schwören, daß Rolf keine hatte. Er war viel zu vorsichtig, um sich mit Leuten anzulegen. Er war so gescheit, daß er immer die Leute ablenken und heikle Situationen abbiegen konnte. Ich hab das ein paarmal erlebt, draußen und im Krankenhaus. Also du meinst nicht, daß es ein Unfall gewesen sein kann?«
Ich schüttelte den Kopf. »Er ist erschossen worden. Du weißt nicht, woher Helmut und Rolf sich kannten?«
»Ich war nur das eine Mal im Weinloch mit beiden zusammen, und da haben sie sich nur kurz begrüßt. Ich hab keinen nach dem anderen gefragt. Im Psychiatrischen hab ich Rolf von Helmut erzählt. Rolf war mein Therapeut und hat das so korrekt wie möglich gemacht. Ganz korrekt war es natürlich nicht, aber wenn er das geändert hätte, war ich aufgeflogen.«
»Eberlein hat von, wie war das gleich, von depressivem Rauhreif gesprochen und davon, daß du drunter ein fröhliches Mädchen bist.«
»Klar bin ich ein fröhliches Mädchen, drüber wie drunter. Wenn die Angst kommt, sage ich ›hallo, Angst‹ und lasse sie ein bißchen machen, aber daß sie mich fertigmacht, lasse ich nicht mehr zu.«
»Angst wovor?«
»Du kennst das nicht? Angst nicht davor, daß etwas Schlimmes passiert, sondern einfach so, wie Fieber oder wenn einem kalt oder schlecht ist?« Sie sah mich an. »Nein, du kennst es nicht. Ich glaube, Rolf hat es auch gekannt, nicht nur von seinen Patienten und aus den Büchern. Er hat mir sehr geholfen.«
»War er in dich verliebt?«
Sie nahm die Füße von der Ablage und setzte
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