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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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das Goldene, wenn’s denn golden war, Zwänge und Konflikte, das Zuhausesein in der Gegenwart. Ich kann’s Ihnen nachher zeigen, wenn Sie wollen.«
    »Wie lange war Ihre Viererbande zusammen?«
    »Bis Helmuts Karriere beim KBW steil nach oben ging. Da hatte er keine Zeit mehr für Tischfußball und Italowestern, und für Politik nur noch, wenn’s um den KBW ging. Seltsam, keiner von uns ist mit ihm zum KBW gegangen, obwohl er so dominant gewesen war, daß wir uns ohne ihn in alle Winde zerstreut haben. Vielleicht hat er uns auch gar nicht dabeihaben wollen. Er hat uns nicht agitiert. Eigentlich war er plötzlich einfach weg.«
    »Und überließ auch Rolf von heute auf morgen sich selbst?«
    »Ja. Ich glaube, es gab Krach zwischen beiden. Richard war der einzige, der Kontakt zu Helmut hielt und zu dem auch Helmut noch Kontakt suchte. Wie lange das ging, weiß ich nicht. Ich habe Richard zuletzt gesehen, als ich Examen gemacht hatte, nach Pforzheim ins Vikariat fuhr und im Heidelberger Bahnhof auf den Zug wartete. Anders als in den Jahren davor arbeitete er nicht mehr in seinem erlernten Beruf als Laborant, sondern beim Anwalt – Scheidungsanwalt, sagte er, und ich fragte mich, ob’s wirklich ein Scheidungs- und nicht ein Terroristenanwalt war, einer von denen, die mit den Terroristen gemeinsame Sache gemacht haben. Richard war immer traurig, daß wir die Italowestern nur sehen und nicht leben konnten. Großgrundbesitzer, korrupte Generale, gierige Priester auf der einen Seite und auf der anderen arme mexikanische Bauern in weißen Pyjamas und Revolutionäre mit gekreuzten Patronengurten über der Brust, dazu reife Mangos, Wein und Mariachis – das hätte er gerne hierhergeholt.«
    Das Mittagessen war vorüber. Die Teilnehmer der verschiedenen Workshops vertraten sich im Park die Beine. Als eine Gruppe uns erspähte und ansteuerte, stand er auf. »Die halten Sie für den nächsten Referenten. Oder haben’s auf mich abgesehen. Gleich geht’s weiter – kommen Sie, ich zeige Ihnen noch das Photo.«
    Es hing in seinem Arbeitszimmer. Ich hatte mir ein postkartengroßes Bildchen vorgestellt, aber es war auf Plakatformat vergrößert, hinter Glas und in schwarzem Rahmen. In Schwarzweiß zeigte es ein Picknick: eine Wiese, ein weißes Tuch mit Früchten, Brot und Wein, daneben in lagerndem Gegenüber Lemke und Wendt, dahinter, schon mit Bart, den neben mir stehenden Leiter der Akademie, der sich bückt und Blumen pflückt, wenige Schritte entfernt einen Borgward mit offenem Verdeck und statt eines Kennzeichens die Buchstaben RIP auf dem Nummernschild. Lemke redet mit erregter Gebärde auf Wendt ein, und dieser, den Kopf in die Hand und den Arm aufs Knie gestützt, hat ihm zugehört. Jetzt schaut er hoch, und auch der Blumen pflückende künftige Akademieleiter richtet aus gebückter Haltung Kopf und Blick nach oben. Sie hatten wohl beim Picknickplatz an dünnem, glitzerndem Stab eine kleine rote Fahne aufgepflanzt. Gerade fliegt eine Elster mit Stab und Fahne davon.
    »Ist das … nein, das ist kein Schnappschuß, oder?«
    »Wegen des Manet-Zitats? Wir haben uns nicht mit Absicht so plaziert. Wir haben auch die Elster nicht bestellt. Allerdings hatte sie uns davor schon eine silberne Gabel geklaut, und Richard hat das Fähnchen locker genug gesteckt, daß sie es schnappen konnte. Er hat uns den ganzen Nachmittag mit der Kamera umkreist, aus der Ferne und aus der Nähe, mit Tele und ohne, und zig Bilder gemacht. Mit dem hier hat er aufgehört. Gefällt’s Ihnen?«
    Ich fand es hübsch. Zugleich machte es mich traurig. Lemke mit dunklem Jackett, weißem Hemd und schmaler dunkler Krawatte sah altmodisch jungenhaft aus, dabei energisch und selbstbewußt. Wendts Gesicht zeigte schon die Überforderung, die ich an ihm kannte. Ein kindliches, ängstliches Gesicht, das sich über den davonfliegenden Vogel freuen wollte, aber nicht recht zu freuen getraute. »Warum sollte der wunderschöne Borgward in Frieden ruhen?«
    Er verstand nicht.
    » RIP , requiescat in pace – galt das nicht dem Wagen? War der Kapitalismus gemeint oder …«
    Er lachte. »Das war nicht am Wagen. Richard hat es hineinretuschiert. Bei den Photos, die er als besonders gelungene Arbeiten ansah, hat er immer irgendwo seine Initialen untergebracht, RIP – das steht für Richard Ingo Peschkalek.«

24
Nach dem Herbst kommt der Winter
    Hätte ich selbst es merken können? Die Frage war natürlich müßig. Trotzdem beschäftigte sie mich bis Göttingen. Mir

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