Selbs Betrug
Workshop Bedroht – bedrückt – betroffen. Vom Umgang mit Fährnis im Rasen der Zeit leite und daß ich mich einfach dazusetzen und in einer Pause auf ihn zugehen könne. Ich fand den Raum und stahl mich auf den letzten freien Stuhl. Der Referent kündigte an, zum Ende zu kommen, und kam dort auch mit einiger Verspätung an. Ich hörte, daß Bedrücktheit eine passive und Betroffenheit eine aktive Haltung ist und daß wir uns unter dem Rasen der Zeit nicht wegducken können, sondern behaupten müssen. Ich lernte auch das Gesetz der Entropie kennen; danach nimmt es mit der Welt kein gutes Ende. Von einem bärtigen Herrn um die Fünfzig wurde dem Referenten gedankt. Dieser habe mit dem Referat eine warme, offene Hand ausgestreckt, die wir herzlich ergreifen und schütteln wollten. Den Raum dafür biete die Diskussion um vierzehn Uhr dreißig, jetzt gebe es Mittagessen. War das der Leiter, der 1967/1968 mit Lemke in der ersten Reihe gesessen und Italowestern gesehen hatte? Zunächst war er von Teilnehmern des Workshop umlagert. Als diese sich verlaufen und den Referenten mitgenommen hatten, blieb er und schrieb.
Ich begrüßte ihn und stellte mich vor. »Ich habe eine Frage, die mit dem Workshop nichts zu tun hat. Ich bin Detektiv, ermittle wegen eines Mordes, und Sie kennen vielleicht den Hauptverdächtigen oder haben ihn gekannt. Waren Sie 1967/ 1968 Student in Heidelberg?« Er war vorsichtig. Er ließ sich von mir den Personalausweis zeigen, sich vom Sekretariat mit Wendt-Immobilien in Heidelberg verbinden und von Frau Büchler bestätigen, daß ich im Auftrag des alten Wendt wegen des Mords am jungen Wendt ermittele. Als er den Hörer auflegte, war er blaß. »Eine furchtbare Nachricht. Da wird jemand, den ich kenne, das Opfer eines Verbrechens. In Ihrem Beruf ist das vermutlich alltäglich. In meiner Welt erfahre ich es als tiefe Bedrohung.«
Es nahm ihn mit. So verzichtete ich darauf, ihm eine Hand zu reichen und Betroffenheit statt Bedrücktheit zu empfehlen. »Wann hatten Sie mit Rolf Wendt zu tun?«
»Wann gab’s in Heidelberg das SPK , das Sozialistische Patientenkollektiv? Als damit Schluß war, suchte Rolf einen neuen Weg, eine neue Richtung, lernte uns kennen und war eine Weile eine Art kleiner Bruder für uns. Er muß damals siebzehn oder achtzehn gewesen sein.«
»Sie sagen ›uns‹ – sprechen Sie von sich und Helmut Lemke?«
»Von Helmut, von Richard und von mir – wir drei waren besonders viel zusammen.« Er sann den alten Zeiten nach. »Wissen Sie, sosehr mich die Nachricht von Rolfs Tod zunächst erschüttert hat – wenn ich zurückdenke, merke ich, daß mir der tote Rolf auch nicht toter ist als die anderen beiden, die vermutlich noch leben, von denen ich aber seit Jahren nichts mehr weiß. Dabei haben wir damals gelebt wie danach nie mehr, mit allen Gedanken und Gefühlen in der Gegenwart. Trotz Weltrevolution – oder wegen ihr? Ist man älter, hängt immer ein Stück des Herzens an der Vergangenheit, sorgt der Kopf sich um die Zukunft. Und daran, daß Freundschaften für die Ewigkeit sind, glaubt man auch nicht mehr.« Ich weiß nicht, woran man überhaupt noch glaubt, wenn man Jahr um Jahr die Schicksalsfragen der Welt zu Workshopthemen portioniert. Er stand auf: »Setzen wir uns raus, ich komme dieser Tage kaum an die Luft.«
Auf der Bank vor dem Haus lehnte er sich weit zurück und bot sein Gesicht der Sonne. Ich fragte ihn, ob Lemke und Wendt damals ein besonders gutes oder besonders schlechtes Verhältnis zueinander hatten, und erfuhr, daß zu Lemke alle ein besonderes Verhältnis hatten. »Man verehrte ihn, man rieb sich an ihm oder beides. Einfach so mit ihm umgehen, von gleich zu gleich, das ging nicht. Und wenn ich von uns als Rolfs großen Brüdern gesprochen habe, dann stimmt’s nicht ganz. Helmut war der, zu dem Rolf besonders aufschaute.«
»Verehrung, Reibung, kein Umgang von gleich zu gleich – trotzdem sind’s in der Erinnerung goldene Tage?«
Er setzte sich auf und sah mich an. Die Stirn war glatt für einen Mann um die Fünfzig. Aber die Augen waren altersmüde. So schaut, wer die Menschen von Berufs wegen lieben muß, obwohl sie ihn nur noch nerven. Als Pfarrer, Therapeut, oder was er von Haus aus war, hatte er mehr Rat gegeben, Trost gespendet und Verzeihung zugesprochen, als er hatte. »Goldene Tage – so habe ich das nicht gesagt und so würde ich’s auch nicht sagen. In meinem Arbeitszimmer hängt ein Photo von damals, in dem ich alles wiedererkenne:
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