Selbs Justiz
unseres Problems: daß Staat und Wirtschaft nur in zuträglichem Neben- und Miteinander stehen, wenn zwischen beiden eine gewisse distance waltet. Und, erlauben Sie mir bitte dieses kühne Bild, hier hat der Staat sich vermessen und der Wirtschaft ins décolleté gegriffen.« Er lachte kräftig, und Oelmüller schloß sich pflichtschuldig an.
Als wieder Ruhe eingekehrt war oder, wie der Franzose sagen würde, silence, sagte Oelmüller: »Technisch ist das Ganze kein Problem. Grundsätzlich wird im Umweltschutz so verfahren, daß die Emissionsträger Wasser oder Luft auf ihre Schadstoffkonzentration untersucht werden. Wenn die zulässigen Werte überschritten sind, wird versucht, die Emissionsquelle zu ermitteln und auszuschalten. Smog kann nun dadurch zustande kommen, daß der eine oder andere Betrieb mehr Emissionen rausläßt, als er darf. Andererseits gibt es auch dann Smog, wenn die Emissionen der einzelnen Betriebe im Rahmen des an sich Zulässigen bleiben, aber das Wetter damit nicht mehr fertig wird.«
»Wie weiß der, der für den Smogalarm zuständig ist, um welche Art von Smog es sich handelt? Er muß doch wohl auf beide Arten ganz verschieden reagieren.« Die Sache fing an, mich zu fesseln, ich stellte den nächsten Gang zum Büfett zurück und fummelte eine Zigarette aus dem gelben Päckchen.
»Richtig, Herr Selb, eigentlich müßte auf beide Arten verschieden reagiert werden, aber sie sind mit den herkömmlichen Methoden schwer auseinanderzuhalten. Passieren kann zum Beispiel, daß der Verkehr stillgelegt wird und die Betriebe ihre Produktion drosseln müssen, obwohl nur ein Kohlekraftwerk die zulässigen Emissionswerte drastisch überschreitet, aber nicht rechtzeitig identifiziert und gestoppt werden kann. Bestechend am neuen Modell der direkten Emissionserfassung ist, daß, jedenfalls theoretisch, die auch von Ihnen zutreffend erkannten Probleme vermieden werden. Über Sensoren werden die Emissionen dort gemessen, wo sie entstehen, und an eine Zentrale gemeldet, die somit jederzeit weiß, wo welche Emissionen anfallen. Und nicht nur das, die Zentrale füttert die Emissionsdaten in eine Simulation der in den nächsten 24 Stunden zu erwartenden örtlichen Wetterlage, man spricht dabei von einem Meteorogramm, und kann den Smog gewissermaßen antizipieren. Ein Frühwarnsystem, das sich deswegen in der Praxis nicht so gut ausnimmt, wie es sich in der Theorie anhört, weil die Meteorologie einfach immer noch in den Kinderschuhen steckt.«
»Wie sehen Sie den gestrigen Vorfall in diesem Zusammenhang? Hat sich das neue Modell bewährt oder hat es versagt?«
»Funktioniert hat das Modell gestern schon.« Nachdenklich zwirbelte Oelmüller am Bartende.
»Nein, nein, Herr Selb, hier muß ich die Perspektive des Technikers doch sogleich zum gesamtwirtschaftlichen Tour d’horizon weiten. Früher wäre gestern einfach gar nichts passiert. Statt dessen hatten wir gestern das Chaos mit all den Lautsprecherdurchsagen, Polizeikontrollen, Ausgangssperren. Und wofür? Die Wolke hat sich ohne Zutun der Umweltschützer verzogen. Da wurde Angst geschürt und Vertrauen zerstört und das Image der RCW beeinträchtigt – tant de bruit pour une omelette. Ich meine, daß dem Bundesverfassungsgericht gerade an diesem Fall das Unverhältnismäßige der neuen Regelung klargemacht werden kann.«
»Unsere Chemiker überprüfen, ob die gestrigen Werte den Smogalarm überhaupt rechtfertigen konnten«, ergriff Oelmüller wieder das Wort. »Sie haben gleich angefangen, die Emissionsdaten auszuwerten, die auch wir in unserem MBI -System, unserem Management- und Betriebsinformationssystem, erfassen.«
»Den Online-Anschluß an die staatliche Emissionserfassung hat man der Industrie immerhin zugestanden«, sagte Ostenteich.
»Halten Sie es für möglich, Herr Oelmüller, daß der Unfall und die Vorfälle im Computersystem in einem Zusammenhang stehen?«
»Daran habe ich auch schon gedacht. Bei uns werden so gut wie alle Produktionsprozesse elektronisch gesteuert, und es gibt eine Menge Querverbindungen zwischen den Prozeßrechnern und dem MBI -System. Manipulationen vom MBI -System aus – ich kann’s nicht ausschließen, trotz aller eingebauter Sicherungen. Über den gestrigen Unfall weiß ich allerdings nicht genug, um sagen zu können, ob ein Verdacht in der Richtung Hand und Fuß hat. Furchtbar, was danach auf uns zukommen könnte.«
Ostenteichs Interpretation des gestrigen Unfalls hatte mich fast vergessen lassen, daß ich
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