Selbs Justiz
unentschlossener Handbewegung ein, auf einem Laborschemel Platz zu nehmen, und blieb selbst mit hängenden Schultern vor dem Kühlschrank stehen. Sein Gesicht war grau, die Finger der linken Hand gelb von Nikotin. Der makellos weiße Labormantel sollte den Verfall der Person verbergen. Aber der Mann war am Ende. Wenn er ein Spieler war, dann einer, der verloren und keine Hoffnung mehr hatte. Einer, der freitags den Lottoschein ausfüllt, aber am Samstag gar nicht mehr schaut, ob er gewonnen hat.
»Ich weiß zwar, warum Sie mit mir reden wollen, Herr Selb, aber ich kann Ihnen nichts sagen.«
»Wo waren Sie am Tag des Unfalls? Das werden Sie ja wissen. Und wohin sind Sie verschwunden?«
»Ich bin leider nicht bei bester Gesundheit und war in den letzten Tagen unpäßlich. Der Unfall in meinem Labor hat mich sehr mitgenommen, es sind wichtige Forschungsunterlagen vernichtet worden.«
»Das ist doch keine Antwort auf meine Frage.«
»Was wollen Sie eigentlich von mir? Lassen Sie mich doch in Ruhe.«
In der Tat, was wollte ich eigentlich von ihm? In ihm den genialen Erpresser zu sehen fiel mir immer schwerer. Kaputt, wie er war, konnte ich ihn mir nicht einmal als Werkzeug eines Außenstehenden vorstellen. Aber meine Vorstellung hatte mich auch schon getäuscht, und irgend etwas stimmte nicht mit Schneider, und so viele Spuren hatte ich nicht. Sein und mein Pech, daß er in die Akten des Werkschutzes geraten war. Und da waren mein Kater und mein Rheuma und die schmollend weinerliche Art von Schneider, die mich nervte. Wenn ich den nicht mehr kleinkriege, kann ich meinen Beruf gleich an den Nagel hängen. Ich raffte mich zu einer neuen Attacke auf.
»Herr Schneider, hier laufen Ermittlungen wegen Sabotagefällen, die Schäden in Millionenhöhe verursacht haben, und es geht um die Abwehr weiterer Gefahren. Ich bin bei meinen Ermittlungen durchweg auf Kooperation gestoßen. Ihre Unbilligkeit, mich zu unterstützen, macht Sie, ich bin ganz offen, verdächtig. Um so mehr, als es in Ihrer Biographie Phasen krimineller Verstrickung gibt.«
»Mit dem Spielen habe ich doch vor Jahren ein Ende gemacht.« Er zündete sich eine Zigarette an. Seine Hand zitterte. Er machte hastige Züge. »Aber bitte, ich lag zu Hause im Bett, und das Telefon stellen wir am Wochenende oft ab.«
»Aber Herr Schneider. Der Werkschutz war bei Ihnen zu Hause. In Ihrem Haus war niemand.«
»Sie glauben mir ja doch nicht. Da sage ich dann eben gar nichts mehr.«
Das hatte ich schon oft gehört. Manchmal half es, den anderen davon zu überzeugen, daß ich ihm glaube, was immer er sagt. Manchmal hatte ich verstanden, die tiefe Not, die in der kindlichen Reaktion steckt, so anzusprechen, daß aus dem anderen alles herausbrach. Heute war ich weder zum einen noch zum anderen fähig. Ich mochte nicht mehr.
»Gut, dann müssen wir das Gespräch in Anwesenheit des Werkschutzes und Ihres Vorgesetzten fortsetzen. Ich würde Ihnen das gerne ersparen. Aber wenn ich von Ihnen bis heute abend nichts höre … Hier meine Karte.«
Ich wartete seine Reaktion nicht ab und ging raus. Ich stand unter dem Vordach, blickte in den Regen und zündete mir eine Zigarette an. Ob es an den Ufern des Sweet Afton jetzt auch regnete? Ich wußte nicht weiter. Dann fiel mir ein, daß die Burschen vom Werkschutz und vom Rechenzentrum ihre Falle aufgestellt hatten, und ich ging ins Rechenzentrum, um sie mir anzusehen. Oelmüller war nicht da. Einer seiner Mitarbeiter, den das Namensschildchen als Herrn Tausendmilch auswies, zeigte mir am Bildschirm die Benachrichtigung der Benutzer über die falsche Datei.
»Soll ich’s Ihnen ausdrucken lassen? Es macht überhaupt keine Mühe.«
Ich nahm den Ausdruck und ging rüber zu Firners Büro. Weder Firner noch Frau Buchendorff waren da. Eine Schreibkraft erzählte mir etwas über Kakteen. Ich hatte genug für heute und verließ das Werk.
Wäre ich jünger gewesen, wäre ich trotz des Regens an die Adria rausgefahren und hätte den Kater weggeschwommen. Wenn ich einfach in mein Auto hätte steigen können, hätte ich es vielleicht trotz meines Alters getan. Aber mit meinem kaputten Arm konnte ich noch immer nicht fahren. Der Pförtner, derselbe wie am Unfalltag, rief mir ein Taxi.
»Sie sind doch der, wo am Freitag dem Schmalz sein Sohn gebracht hat. Sind Sie der Selb? Dann hab ich was für Sie.«
Er machte sich unter seinem Kontroll- und Alarmpult zu schaffen und kam mit einem Päckchen wieder hoch, das er mir mit Wichtigkeit
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