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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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auf der Autobahn einem Schneepflug nach Norden. Es war dunkel geworden. Das Autoradio meldete Staus und spielte Hits aus den sechziger Jahren.

6
Kartoffeln, Weißkohl und heiße Blutwurst
    Im dichten Schnee verpaßte ich am Walldorfer Kreuz die Abfahrt nach Mannheim. Dann fuhr der Schneepflug auf einen Parkplatz, und ich war verloren. Ich schaffte es noch bis zur Raststätte Hardtwald.
    Im Stehimbiß wartete ich mit meinem Kaffee, daß das Schneetreiben aufhöre. Ich sah in die tanzenden Flocken. Auf einmal waren die Bilder der Vergangenheit ganz lebendig.
    Es war ein August- oder Septemberabend gewesen, 1943. Klara und ich hatten unsere Wohnung in der Werderstraße räumen müssen und gerade den Umzug in die Bahnhofstraße hinter uns. Korten war zum Abendessen bei uns. Es gab Kartoffeln, Weißkohl und heiße Blutwurst. Korten war begeistert von der neuen Wohnung, lobte Klara für das Essen, und ich ärgerte mich darüber, weil er wußte, wie kläglich Klärchen kochte, und weil ihm nicht entgangen sein konnte, daß die Kartoffeln versalzen und der Kohl angebrannt war. Dann ließ Klara uns Männer mit unseren Zigarren für eine kleine Stunde im Herrenzimmer allein.
    Ich hatte damals gerade die Akte Tyberg und Dohmke auf den Tisch gekriegt. Mich überzeugten die polizeilichen Ermittlungsergebnisse nicht. Tyberg kam aus guter Familie, hatte sich an die Front gemeldet und war nur gegen seinen Willen wegen seiner kriegswichtigen Forschungsarbeiten bei den RCW belassen worden. Ich konnte ihn mir nicht als Saboteur vorstellen.
    »Du kennst doch Tyberg. Was hältst du von ihm?«
    »Ein untadeliger Mann. Wir sind alle entsetzt, daß er und Dohmke, keiner weiß, warum, vom Arbeitsplatz weg verhaftet wurden. Mitglied der deutschen Hockeymannschaft 1936, Träger der Professor-Demel-Medaille, ein begnadeter Chemiker, geschätzter Kollege und verehrter Vorgesetzter – also ich verstehe wirklich nicht, was ihr von Polizei und Staatsanwaltschaft euch da ausgedacht habt.«
    Ich erklärte ihm, daß eine Verhaftung keine Verurteilung ist und daß vor einem deutschen Gericht niemand verurteilt würde, es lägen denn die nötigen Beweise vor. Das war ein altes Thema zwischen uns seit unserer Studienzeit. Korten hatte damals ein Buch über berühmte Fehlurteile beim Bouquinisten gefunden und nächtelang mit mir darüber diskutiert, ob menschliche Gerechtigkeit Fehlurteile vermeiden könne. Ich hatte dies vertreten, Korten hatte demgegenüber den Standpunkt eingenommen, daß man mit Fehlurteilen leben müsse.
    Mir kam ein Winterabend aus der Berliner Studienzeit in den Sinn. Klara und ich fuhren am Kreuzberg Schlitten und wurden danach im Hause Korten zum Abendbrot erwartet. Klara war 17, tausendmal hatte ich sie als Ferdinands kleine Schwester erlebt und übersehen, und zum Schlittenfahren nahm ich das Gör nur mit, weil sie so darum gebettelt hatte. Eigentlich hoffte ich, Pauline auf der Rodelbahn zu treffen, ihr nach einem Sturz aufzuhelfen oder sie vor den garstigen Kreuzberger Straßenjungen beschützen zu können. War Pauline dagewesen? Jedenfalls hatte ich auf einmal nur noch Augen für Klara. Sie hatte eine Pelzjacke an und einen bunten Schal, und ihre blonden Locken flogen, und auf ihren glühenden Wangen schmolzen die Flocken. Auf dem Heimweg küßten wir uns zum ersten Mal. Klara mußte mich erst überreden, daß ich noch zum Abendbrot mit hochging. Ich wußte nicht, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte vor Eltern und Bruder. Als ich später ging, brachte sie mich unter einem Vorwand zur Haustür und gab mir einen heimlichen Kuß.
    Ich ertappte mich dabei, wie ich zum Fenster hinaus lächelte. Auf dem Parkplatz der Raststätte hielt ein Bundeswehrkonvoi, der auch nicht mehr weiterkam im Schnee. Mein Auto trug schon wieder eine dicke Haube. An der Theke holte ich mir noch einen Kaffee und ein belegtes Brötchen. Ich stellte mich wieder ans Fenster.
    Korten und ich waren damals auch auf Weinstein zu sprechen gekommen. Ein untadeliger Beschuldigter und ein jüdischer Belastungszeuge – ich überlegte, ob ich das Ermittlungsverfahren nicht einstellen sollte. Ich konnte Korten nicht über Weinsteins Bedeutung für die Ermittlungen informieren, aber die Gelegenheit, von ihm etwas über Weinstein zu erfahren, wollte ich mir nicht entgehen lassen.
    »Was hältst du eigentlich vom Einsatz der Juden bei euch im Werk?«
    »Du weißt, Gerd, daß wir in der Judenfrage schon immer verschiedener Auffassung waren. Ich habe noch nie

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