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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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»der täglich ein- und ausmarschierenden Soldaten. Hören Sie sich da ruhig rein.« Er machte mit der einen Hand eine Geste, die mir Schweigen gebot, und klopfte mit der anderen weiter. Langsam verstummte die Hand. Kirchenberg seufzte. »Erst im Zusammensein mit mir hat er diese Jahre aufarbeiten können.«
    Als ich den Verdacht der Selbstverstümmelung ansprach, war Kirchenberg außer sich. »Da muß ich doch laut rauslachen. Sergej hat ein sehr liebevolles Verhältnis zum eigenen Körper, fast narzißtisch. Mit allen Vorurteilen, die über uns Schwule kursieren, sollte doch wenigstens begriffen sein, daß wir unseren Körper sorgfältiger pflegen als der landläufige Heterosexuelle. Wir sind unser Körper, Herr Selb.«
    »War Sergej Mencke denn wirklich schwul?«
    »Noch so ein präjudizielles Statement«, sagte Kirchenberg fast mitleidig. »Sie sind nie auf der Scheffelterrasse gesessen und haben Stefan George gelesen. Machen Sie das mal. Dann werden Sie vielleicht spüren, daß Homoerotik nicht eine Frage des Seins, sondern des Werdens ist. Sergej ist nicht, er wird.«
    Ich verabschiedete mich von Professor Kirchenberg und ging an Mischkeys Wohnung vorbei zum Schloß hoch. Auch auf der Scheffelterrasse verweilte ich für einen Augenblick. Mir war kalt. Oder wurde mir kalt? Sonst wurde nichts, konnte vielleicht auch nichts ohne Stefan George.
    Im ›Café Gunde‹ lagen schon die Springerle fürs Weihnachtsfest aus. Ich erstand eine Tüte, wollte Judith auf der Fahrt nach Locarno damit überraschen.
    In meinem Büro lief alles wie geschmiert. Bei der Auskunft bekam ich die Telephonnummer des katholischen Pfarramts in Roth; der Kaplan unterbrach die Predigtvorbereitung nur zu gerne, um mir zu sagen, daß der Rother Führer der Georgspfadfinder seit eh und je Joseph Maria Jungbluth ist, Oberlehrer seines Zeichens. Oberlehrer Jungbluth erreichte ich gleich darauf, und er wollte gerne mit mir morgen am frühen Nachmittag über den kleinen Siegfried reden. Judith hatte bei Tyberg einen Termin für Sonntag nachmittag bekommen, und wir beschlossen, am Samstag zu fahren. »Tyberg ist gespannt auf dich.«

9
Da waren’s nur noch drei
    Auf der neuen Autobahn fährt man von Mannheim nach Nürnberg eigentlich zwei Stunden. Die Ausfahrt Schwabach/Roth geht dreißig Kilometer vor Nürnberg ab. Eines Tages wird Roth an der Autobahn Augsburg-Nürnberg liegen. Aber ich werde das nicht mehr erleben.
    Nachts war neuer Schnee gefallen. Auf der Fahrt hatte ich die Wahl zwischen zwei Spurrinnen, der ausgefahrenen rechts und einer schmalen zum Überholen. An einem Lastwagen vorbeizufahren war ein schlingerndes Abenteuer. Nach dreieinhalb Stunden Fahrt kam ich an. In Roth gibt es ein paar Fachwerkhäuser, ein paar Sandsteinbauten, evangelische und katholische Kirche, Kneipen, die sich den soldatischen Bedürfnissen angepaßt haben, und viele Kasernen. Nicht einmal ein Lokalpatriot könnte Roth als Perle Frankens bezeichnen. Es war kurz vor eins, und ich suchte mir einen Gasthof. Im ›Roten Hirschen‹, der dem Trend zum Fast food widerstanden und sogar noch seine alte Einrichtung bewahrt hatte, kochte der Wirt selbst. Ich fragte die Kellnerin nach einem bayerischen Gericht. Sie verstand meine Frage nicht. »Bayrisch? Mir sin in Frankn.« Also fragte ich sie nach einem fränkischen Gericht. »Alles«, sagte sie. »Unser ganze Kartn is fränkisch. Der Kaffee aa.« Hilfreicher Menschenschlag hier. Ich bestellte auf gut Glück Saure Zipfel mit Bratkartoffeln und dazu ein dunkles Bier.
    Saure Zipfel sind Bratwürste, werden aber nicht gebraten, sondern in einem Sud von Essig, Zwiebeln und Gewürzen erhitzt. So schmecken sie auch. Die Bratkartoffeln waren herrlich rösch. Die Kellnerin ließ sich erweichen, mir nach dem Essen den Weg in die Allersberger Straße zu zeigen, wo Oberlehrer Jungbluth wohnte.
    Jungbluth öffnete die Tür in Zivil. Ich hatte ihn in meiner Phantasie in Kniestrümpfen, knielanger brauner Hose, blauem Halstuch und breitrandigem Pfadfinderhut vor mir gesehen. Er erinnerte sich nicht mehr an das Pfadfinderlager, bei dem der kleine Mencke einen echten oder falschen Verband getragen und sich dadurch vor dem Abwaschen gedrückt hatte. Aber er erinnerte sich an anderes.
    »Er hat sich gerne gedrückt, der Siegfried. Auch in der Schule, wo er die erste und zweite Klasse bei mir war. Wissen Sie, er war ein verdruckstes Kind. Und ein ängstliches Kind war er. Ich versteh ja nicht viel von der Medizin, außer den

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