Selbs Justiz
doch kein Geheimnis draus gemacht, so wie sie miteinander in der Stadt rumgezogen sind. Es ist Fritz Kirchenberg aus Heidelberg. Ist vielleicht ganz gut, wenn Sie mal mit ihm reden.«
Ich fragte die beiden nach ihrer Meinung über Sergejs tänzerische Qualitäten. Hanne antwortete zuerst.
»Aber darum geht’s doch überhaupt nicht. Auch wenn man kein guter Tänzer ist, muß man sich doch nicht das Bein abhauen. Ich weigere mich, darüber überhaupt zu reden. Und ich bleibe dabei, daß Sie unrecht haben.«
»Ich hab noch gar keine feste Meinung, Frau Fischer. Und ich möchte auch darauf hinweisen, daß Herr Mencke das Bein nicht verloren, sondern nur gebrochen hat.«
»Ich weiß nicht, wieviel Sie vom Ballett verstehen, Herr Selb«, sagte Joschka. »Letztlich ist es bei uns wie überall. Es gibt die Stars und die, die es einmal werden, es gibt den guten Durchschnitt derer, die sich die Blütenträume abgeschminkt haben, aber nie Existenzangst haben müssen. Und dann gibt’s noch die, die in ständiger Angst um das nächste Engagement leben müssen, bei denen es mit Sicherheit aus ist, wenn sie erst einmal älter werden. Sergej gehörte zur dritten Gruppe.«
Hanne widersprach nicht. Sie gab durch ihr trotziges Gesicht zu verstehen, daß sie das Gespräch für völlig neben der Sache hielt. »Ich dachte, Sie wollten etwas über Sergej, den Menschen, herausfinden. Daß die Männer auch nichts anderes kennen als die Karriere.«
»Wie hat sich Herr Mencke seine Zukunft vorgestellt?«
»Er hat nebenher immer noch Gesellschaftstanz gemacht und hat mir mal gesagt, daß er gerne eine Tanzschule aufmachen würde, eine ganz herkömmliche, für die Fünfzehn- und Sechzehnjährigen.«
»Das zeigt doch auch, daß er sich nichts getan haben kann. Überleg doch einmal richtig, Joschka. Wie soll er ohne Bein Tanzlehrer werden?«
»Wußten Sie auch von seinen Tanzstundenplänen, Frau Fischer?«
»Sergej hat mit vielen Plänen rumgespielt. Er ist ja toll kreativ und hat eine unheimliche Phantasie. Er konnte sich auch vorstellen, was ganz anderes zu machen, Schafe züchten in der Provence oder so.«
Sie mußten zurück zur Probe. Sie gaben mir ihre Telephonnummern, falls mir noch Fragen kämen, fragten mich, ob ich am Abend schon etwas vorhätte, und versprachen, an der Kasse für mich eine Freikarte zurücklegen zu lassen. Ich sah ihnen nach. Joschkas Gang war konzentriert und federnd, Hanne ging leichten, schwebenden Schritts. Sie hatte viel dummes Zeug geredet, echt, aber sie ging überzeugend, und ich hätte sie gerne am Abend im Ballett gesehen. Doch Pittsburgh war viel zu kalt. Ich ließ mich zum Flugplatz bringen, flog nach New York und bekam noch für denselben Abend den Rückflug nach Frankfurt. Ich glaube, ich bin zu alt für Amerika.
5
Wessen Maultaschen schmälzt er denn?
Beim Brunch im ›Café Gmeiner‹ machte ich ein Programm für den Rest der Woche. Draußen fiel der Schnee in dichten Flocken. Ich mußte den Pfadfinderführer auftreiben, in dessen Gruppe Mencke gewesen war, und Professor Kirchenberg sprechen. Und ich wollte mich mit dem Richter unterhalten, der damals Tyberg und Dohmke zum Tode verurteilt hatte. Ich mußte wissen, ob die Verurteilung auf Weisung von oben erfolgt war.
Richter Beufer war nach dem Krieg Senatsvorsitzender am Oberlandesgericht Karlsruhe geworden; auf der Hauptpost fand ich seinen Namen im Karlsruher Telephonbuch. Seine Stimme klang erstaunlich jung, und er erinnerte sich an meinen Namen. »Der Selb«, schwäbelte er. »Was ist denn aus ihm geworden?« Er war bereit, mich am Nachmittag zu einem Gespräch zu empfangen.
Er wohnte in Durlach, in einem Haus am Hang mit Blick über Karlsruhe. Ich sah den großen Gasometer, der mit der Aufschrift Karlsruhe grüßt. Richter Beufer machte mir selbst auf. Er hielt sich militärisch gerade, hatte einen grauen Anzug an, darunter ein weißes Hemd mit roter Krawatte und silberner Krawattennadel. Der Hemdkragen war zu weit geworden für den alten, faltigen Hals. Beufer war kahl, sein Gesicht hing schwer nach unten, Tränensäcke, Backen, Kinn. Wir hatten bei der Staatsanwaltschaft immer Witze über seine abstehenden Ohren gemacht. Sie waren eindrucksvoller denn je. Er sah krank aus. Er mußte weit über achtzig sein.
»Privatdetektiv ist er also geworden. Schämt er sich nicht? Er war doch ein guter Jurist, ein schneidiger Staatsanwalt. Ich hatte erwartet, Sie wieder bei uns zu sehen, als das Schlimmste vorbei war.«
Wir saßen in seinem
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