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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink , Walter Popp
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Rheinfischer Rudi Baiser von einer Abordnung der rcw , ge-führt von Generaldirektor Dr. Dr. h. c. Korten, über-rascht. ›Ich wollte es mir nicht nehmen lassen, diesem großen alten Mann der Rheinfischerei persönlich zu 146
    gratulieren. 95 Jahre und noch frisch wie ein Fisch im Rhein.‹ Unser Bild hält den Moment fest, in dem sich Generaldirektor Dr. Dr. h. c. Korten mit dem Jubilar freut und ihm einen Präsentkorb …«

    Das Bild zeigte im Vordergrund deutlich den Präsentkorb; es war der gleiche, den ich bekommen hatte.
    Dann fand ich die Kopie eines kurzen Zeitungsartikels vom Mai 1970.

    »Wissenschafller als Zwangsarbeiter in den rcw ? Das Institut für Zeitgeschichte hat ein heißes Eisen ange-packt. Der letzte Band der Schriftenreihe der ›Viertel-jahrshefte für Zeitgeschichte‹ beschäftigt sich mit der Zwangsarbeit jüdischer Wissenschaftler in der deutschen Industrie von 1940 bis 1945 . Danach sollen unter anderen namhafte jüdische Chemiker unter entwürdigenden Bedingungen an der Entwicklung von chemischen Kampfstoffen gearbeitet haben. Der Pressesprecher der rcw verwies auf die für 1972 zum hundertjährigen Jubiläum der rcw geplante Festschrift, in der sich ein Beitrag mit der Firmengeschichte unter dem Nationalsozialismus und dabei auch mit den tragischen Vorgängern befassen werde.«

    Warum hatte das Mischkey interessiert? »Können Sie einen Moment kommen«, bat ich Frau Buchendorff, die im anderen Zimmer im Sessel saß und aus dem Fenster sah. Ich zeigte ihr die Zeitungsartikel und fragte sie, ob ihr dazu was einfalle.
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    »Ja, Peter hatte sich in der letzten Zeit immer wieder bei mir über dies und das erkundigt, was mit den rcw zu tun hat. Früher hat er das nicht getan. Zu der Sache mit den jüdischen Wissenschaftlern habe ich ihm auch den Artikel aus unserer Festschrift kopieren müssen.«
    »Und woher sein Interesse kam, hat er nicht gesagt?«
    »Nein, ich habe ihn auch nicht gedrängt, was dazu zu sagen, weil das Reden miteinander am Schluß oft so schwierig war.«
    Ich fand die Kopie des Festschriftartikels im Leitzordner ›Reference Chart Webs‹. Er stand bei den Computerausdrucken. Das R, das C und das W waren mir ins Auge gefallen, als ich den resignierenden Ab-schiedsblick auf die Regale warf. Der Ordner war voll mit Zeitungs- und anderen Artikeln, etwas Korrespon-denz, ein paar Broschüren und Computerausdrucken.
    Soweit ich sehen konnte, hatte das ganze Material mit den rcw zu tun. »Ich kann den Ordner doch mitnehmen?« Frau Buchendorff nickte. Wir verließen die Wohnung.
    Auf der Heimfahrt über die Autobahn war das Verdeck zu. Ich saß mit dem Ordner auf den Knien und fühlte mich dabei wie ein Pennäler. Unvermittelt fragte mich Frau Buchendorff: »Sie waren doch Staatsanwalt, Herr Selb. Warum haben Sie eigentlich aufgehört?«
    Ich holte mir eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an. Als die Pause zu lang wurde, sagte ich:
    »Ich sage gleich was auf Ihre Frage, ich brauche nur noch einen Moment.« Wir überholten einen Lastzug mit gelben Planen und der roten Aufschrift ›Wohlfarth‹.
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    Ein großer Name für ein Speditionsunternehmen. An uns brummte ein Motorrad vorbei.
    »Nach Kriegsende wollte man mich nicht mehr. Ich war überzeugter Nationalsozialist gewesen, aktives Par-teimitglied und ein harter Staatsanwalt, der auch Todes-strafen gefordert und gekriegt hat. Es waren spektaku-läre Prozesse dabei. Ich glaubte an die Sache und verstand mich als Soldat an der Rechtsfront, an der anderen Front konnte ich nach meiner Verwundung
    gleich zu Beginn des Krieges nicht mehr eingesetzt werden.« Das Schlimmste war vorbei. Warum hatte ich Frau Buchendorff nicht einfach die bereinigte Version erzählt? »Nach 1945 war ich zunächst bei meinen Schwiegereltern auf dem Bauernhof, dann im Kohlen-handel, und danach ging’s langsam als Privatdetektiv los. Für mich hatte die Arbeit als Staatsanwalt keine Perspektive mehr. Ich sah mich nur als nationalsozialistischen Staatsanwalt, der ich gewesen war und auf keinen Fall mehr sein konnte. Mein Glaube war verloren-gegangen. Sie können sich wahrscheinlich nicht vorstellen, wie man überhaupt an den Nationalsozialismus glauben konnte. Aber Sie sind mit dem Wissen aufgewachsen, das wir nach 1945 erst Stück um Stück bekamen. Schlimm war’s mit meiner Frau, die eine schöne blonde Nazisse war und auch blieb, bis sie zur voll-schlanken Wirtschaftswunderdeutschen wurde.« Über meine Ehe wollte ich nicht mehr

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