Selbs Justiz
voneinander.«
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Hast du ein Taschentuch?
Brigitte hatte Filetspitzen Stroganoff mit frischen Champignons und Reis gerichtet. Es schmeckte köstlich, der Wein war wohltemperiert, und der Tisch war liebevoll gedeckt. Brigitte redete viel. Ich hatte ihr Elton Johns ›Greatest Hits‹ mitgebracht, und er sang von Liebe, Leid, Hoffnung und Trennung.
Sie verbreitete sich über Fußreflexzonen-Therapie, Akupressur und Rolfing. Sie erzählte mir von Patienten, Kassen und Kollegen. Sie kümmerte sich einen Dreck darum, ob es mich interessierte und wie es mir ging.
»Was ist heute eigentlich los? Heute nachmittag erkenne ich Korten kaum wieder, und jetzt sitze ich bei einer Brigitte, die mit der Frau, die mir gefällt, gerade noch die Narbe im Ohrläppchen gemeinsam hat.«
Sie legte die Gabel aus der Hand, stützte die Arme auf den Tisch, legte den Kopf in die Hände und fing an zu weinen. Ich ging um den Tisch herum zu ihr, sie barg den Kopf an meinem Bauch und weinte nur noch hefti-ger. »Was ist denn?« Ich strich ihr übers Haar.
»Ich … ach, es ist zum Heulen. Ich fahre morgen weg.«
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»Was ist denn daran zum Heulen?«
»Es ist so furchtbar lang. Und so weit.« Sie zog die Nase hoch.
»Wie lang denn und wie weit?«
»Ach … ich …« Sie riß sich zusammen. »Hast du ein Taschentuch? Ich fahre für sechs Monate nach Brasilien.
Meinen Sohn sehen.«
Ich setzte mich wieder hin. Jetzt war mir zum Heulen. Zugleich hatte ich einen Zorn. »Warum hast du mir das nicht früher gesagt?«
»Ich wußte doch nicht, daß es mit uns so schön werden würde.«
»Das versteh ich nicht.«
Sie nahm meine Hand. »Die sechs Monate hatten Ju-an und ich geplant, um zu sehen, ob wir nicht doch miteinander können. Manuel vermißt halt die Mutter immer wieder. Und mit dir dacht ich, es wird nur eine kurze Episode und ist eben rum, wenn ich nach Brasilien fahre.«
»Was heißt, du dachtest, es ist eben rum, wenn du nach Brasilien fährst? Da ändern doch die Postkarten vom Zuckerhut nichts dran.« Mir war ganz schwarz vor Traurigkeit. Sie sagte nichts und sah ins Leere. Nach einer Weile zog ich meine Hand unter ihrer hervor und stand auf. »Ich gehe jetzt lieber.« Sie nickte stumm.
Im Flur lehnte sie sich noch einen Moment an mich.
»Ich kann doch nicht die Rabenmutter bleiben, die du sowieso nicht magst.«
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Mit hochgezogenen Schultern
Die Nacht war traumlos. Ich wachte um sechs Uhr auf, wußte, daß ich heute mit Judith reden müßte, und überlegte, was ich ihr sagen sollte. Alles? Wie würde sie weiter bei den rcw arbeiten und ihr altes Leben leben?
Doch das war ein Problem, das ich nicht für sie lösen konnte.
Um neun rief ich sie an. »Ich bin mit dem Fall am Ende, Judith. Machen wir einen Spaziergang durch den Hafen, und ich erzähle dir dabei?«
»Du klingst nicht gut. Was hast du gefunden?«
»Ich hol dich ab, um zehn.«
Ich setzte Kaffee auf, holte die Butter aus dem Eisschrank, die Eier und den geräucherten Schinken, schnitt Zwiebeln klein und Schnittlauch, wärmte die Milch für Turbo, preßte drei Orangen zu Saft, deckte den Tisch und machte mir zwei Spiegeleier auf Schinken und leicht angedünsteten Zwiebeln.
Als die Eier richtig waren, streute ich den Schnittlauch drüber. Der Kaffee war fertig. Ich saß lange vor meinem Frühstück, ohne es anzurühren. Kurz vor zehn Uhr trank ich ein paar Schluck Kaffee. Ich stellte die Ei-er Turbo hin und ging.
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Als ich klingelte, kam Judith gleich runter. Sie sah hübsch aus in ihrem Lodenmantel mit dem hochgestell-ten Kragen, so hübsch, wie man nur aussehen kann, wenn man unglücklich ist.
Wir stellten das Auto beim Hafenamt ab und gingen zwischen den Bahnanlagen und den alten Lagerhäusern die Rheinkaistraße entlang. Unter dem grauen Septem-berhimmel war alles sonntäglich ruhig. Die Traktoren von John Deere standen, als warteten sie auf den Beginn des Feldgottesdienstes.
»Jetzt fang aber endlich an zu erzählen.«
»Hat Firner nichts erwähnt von meinem Zusammenstoß mit dem Werkschutz Donnerstag nacht?«
»Nein. Ich glaube, er hat rausgekriegt, daß ich mit Peter zusammen war.«
Ich begann mit dem Gespräch, das Korten und ich gestern geführt hatten, verweilte länger bei der Frage, ob der alte Schmalz als letztes Glied einer gut funktio-nierenden Befehlskette gehandelt, sich größenwahnsinnig als Retter des Werks aufgespielt hatte oder miß-
braucht worden war, und sparte auch die Details des Mords auf der Brücke nicht
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