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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink , Walter Popp
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Willen wegen seiner kriegswichtigen Forschungsarbeiten bei den rcw belassen worden. Ich konnte ihn mir nicht als Saboteur vorstellen.
    »Du kennst doch Tyberg. Was hältst du von ihm?«
    »Ein untadeliger Mann. Wir sind alle entsetzt, daß er und Dohmke, keiner weiß, warum, vom Arbeitsplatz weg verhaftet wurden. Mitglied der deutschen Hockeymannschaft 1936, Träger der Professor-Demel-Medaille, ein begnadeter Chemiker, geschätzter Kollege und verehrter Vorgesetzter – also ich verstehe wirklich nicht, was ihr von Polizei und Staatsanwaltschaft euch da ausgedacht habt.«
    Ich erklärte ihm, daß eine Verhaftung keine Verurteilung ist und daß vor einem deutschen Gericht niemand verurteilt würde, es lägen denn die nötigen Beweise vor.
    Das war ein altes Thema zwischen uns seit unserer Studienzeit. Korten hatte damals ein Buch über berühmte Fehlurteile beim Bouquinisten gefunden und nächte-lang mit mir darüber diskutiert, ob menschliche Gerechtigkeit Fehlurteile vermeiden könne. Ich hatte dies vertreten, Korten hatte demgegenüber den Standpunkt eingenommen, daß man mit Fehlurteilen leben müsse.
    Mir kam ein Winterabend aus der Berliner Studienzeit in den Sinn. Klara und ich fuhren am Kreuzberg Schlitten und wurden danach im Hause Korten zum Abendbrot erwartet. Klara war 17, tausendmal hatte ich sie als Ferdinands kleine Schwester erlebt und überse-hen, und zum Schlittenfahren nahm ich das Gör nur 282
    mit, weil sie so darum gebettelt hatte. Eigentlich hoffte ich, Pauline auf der Rodelbahn zu treffen, ihr nach einem Sturz aufzuhelfen oder sie vor den garstigen Kreuzberger Straßenjungen beschützen zu können.
    War Pauline dagewesen? Jedenfalls hatte ich auf einmal nur noch Augen für Klara. Sie hatte eine Pelzjacke an und einen bunten Schal, und ihre blonden Locken flogen, und auf ihren glühenden Wangen schmolzen die Flocken. Auf dem Heimweg küßten wir uns zum ersten Mal. Klara mußte mich erst überreden, daß ich noch zum Abendbrot mit hochging. Ich wußte nicht, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte vor Eltern und Bruder. Als ich später ging, brachte sie mich unter einem Vorwand zur Haustür und gab mir einen heimlichen Kuß.
    Ich ertappte mich dabei, wie ich zum Fenster hinaus lächelte. Auf dem Parkplatz der Raststätte hielt ein Bundeswehrkonvoi, der auch nicht mehr weiterkam im Schnee. Mein Auto trug schon wieder eine dicke Haube. An der Theke holte ich mir noch einen Kaffee und ein belegtes Brötchen. Ich stellte mich wieder ans Fenster.
    Korten und ich waren damals auch auf Weinstein zu sprechen gekommen. Ein untadeliger Beschuldigter und ein jüdischer Belastungszeuge – ich überlegte, ob ich das Ermittlungsverfahren nicht einstellen sollte. Ich konnte Korten nicht über Weinsteins Bedeutung für die Ermittlungen informieren, aber die Gelegenheit, von ihm etwas über Weinstein zu erfahren, wollte ich mir nicht entgehen lassen.
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    »Was hältst du eigentlich vom Einsatz der Juden bei euch im Werk?«
    »Du weißt, Gerd, daß wir in der Judenfrage schon immer verschiedener Auffassung waren. Ich habe noch nie etwas von Antisemitismus gehalten. Ich finde es schwierig, Zwangsarbeiter im Werk zu haben, aber ob das Juden oder Franzosen oder Deutsche sind, ist egal.
    Bei uns im Labor arbeitet Professor Weinstein, und es ist ein Jammer, daß dieser Mann nicht hinter dem Ka-theder oder in seinem eigenen Labor stehen kann. Er leistet uns unschätzbare Dienste, und wenn du nach dem Aussehen und der Gesinnung gehst, findest du niemanden, der deutscher ist. Ein Professor der alten Schule, bis 1933 Ordinarius für organische Chemie in Breslau, alles, was Tyberg als Chemiker ist, verdankt er Weinstein, dessen Famulus und Assistent er war. Der Typ des liebenswürdigen, zerstreuten Gelehrten.«
    »Und wenn ich dir sagen würde, daß der Tyberg be-schuldigt?«
    »Um Gottes willen, Gerd. Wo Weinstein doch so an seinem Schüler Tyberg hängt … Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
    Ein Räumfahrzeug pflügte sich seinen Weg auf den Parkplatz. Der Fahrer stieg aus und kam in die Raststät-te. Ich fragte ihn, wie ich nach Mannheim weiterkäme.
    »Gerade ist ein Kollege zum Heidelberger Kreuz gefahren. Machen Sie schnell, ehe die Fahrbahn wieder zu ist.«
    Es war sieben. Um Viertel vor acht war ich am Heidelberger Kreuz und um neun in Mannheim. Ich mußte 284
    mir noch die Beine vertreten und freute mich am tiefen Schnee. Die Stadt lag still. Ich wäre gerne mit der Troika durch Mannheim

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