Selbs Justiz
Mencke seine Zukunft vorge-
stellt?«
»Er hat nebenher immer noch Gesellschaftstanz gemacht und hat mir mal gesagt, daß er gerne eine Tanz-274
schule aufmachen würde, eine ganz herkömmliche, für die Fünfzehn- und Sechzehnjährigen.«
»Das zeigt doch auch, daß er sich nichts getan haben kann. Überleg doch einmal richtig, Joschka. Wie soll er ohne Bein Tanzlehrer werden?«
»Wußten Sie auch von seinen Tanzstundenplänen, Frau Fischer?«
»Sergej hat mit vielen Plänen rumgespielt. Er ist ja toll kreativ und hat eine unheimliche Phantasie. Er konnte sich auch vorstellen, was ganz anderes zu machen, Schafe züchten in der Provence oder so.«
Sie mußten zurück zur Probe. Sie gaben mir ihre Telephonnummern, falls mir noch Fragen kämen, fragten mich, ob ich am Abend schon etwas vorhätte, und versprachen, an der Kasse für mich eine Freikarte zurück-legen zu lassen. Ich sah ihnen nach. Joschkas Gang war konzentriert und federnd, Hanne ging leichten, schwe-benden Schritts. Sie hatte viel dummes Zeug geredet, echt, aber sie ging überzeugend, und ich hätte sie gerne am Abend im Ballett gesehen. Doch Pittsburgh war viel zu kalt. Ich ließ mich zum Flugplatz bringen, flog nach New York und bekam noch für denselben Abend den Rückflug nach Frankfurt. Ich glaube, ich bin zu alt für Amerika.
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Wessen Maultaschen schmälzt er denn?
Beim Brunch im ›Café Gmeiner‹ machte ich ein Programm für den Rest der Woche. Draußen fiel der Schnee in dichten Flocken. Ich mußte den Pfadfinderführer auftreiben, in dessen Gruppe Mencke gewesen war, und Professor Kirchenberg sprechen. Und ich wollte mich mit dem Richter unterhalten, der damals Tyberg und Dohmke zum Tode verurteilt hatte. Ich mußte wissen, ob die Verurteilung auf Weisung von oben erfolgt war.
Richter Beufer war nach dem Krieg Senatsvorsitzender am Oberlandesgericht Karlsruhe geworden; auf der Hauptpost fand ich seinen Namen im Karlsruher Tele-phonbuch. Seine Stimme klang erstaunlich jung, und er erinnerte sich an meinen Namen. »Der Selb«, schwäbelte er. »Was ist denn aus ihm geworden?« Er war bereit, mich am Nachmittag zu einem Gespräch zu empfangen.
Er wohnte in Durlach, in einem Haus am Hang mit Blick über Karlsruhe. Ich sah den großen Gasometer, der mit der Aufschrift Karlsruhe grüßt. Richter Beufer machte mir selbst auf. Er hielt sich militärisch gerade, hatte einen grauen Anzug an, darunter ein weißes 276
Hemd mit roter Krawatte und silberner Krawattenna-del. Der Hemdkragen war zu weit geworden für den alten, faltigen Hals. Beufer war kahl, sein Gesicht hing schwer nach unten, Tränensäcke, Backen, Kinn. Wir hatten bei der Staatsanwaltschaft immer Witze über seine abstehenden Ohren gemacht. Sie waren eindrucksvoller denn je. Er sah krank aus. Er mußte weit über achtzig sein.
»Privatdetektiv ist er also geworden. Schämt er sich nicht? Er war doch ein guter Jurist, ein schneidiger Staatsanwalt. Ich hatte erwartet, Sie wieder bei uns zu sehen, als das Schlimmste vorbei war.«
Wir saßen in seinem Arbeitszimmer und tranken
Sherry. Er las noch immer die ›Neue Juristische Wo-chenschrift‹. »Der Selb kommt doch nicht nur, um seinem alten Richter einen Besuch zu machen.« Seine Schweinsäuglein blitzten pfiffig.
»Erinnern Sie sich an die Strafsache Tyberg und Dohmke? Ende 1943, Anfang 1944? Ich habe damals die Ermittlungen geführt, Södelknecht hat die Anklage vertreten, und Sie haben dem Gericht vorgesessen.«
»Tyberg und Dohmke …« Er sprach die Namen ein
paarmal vor sich hin. »Aber ja, zum Tode wurden sie verurteilt, und bei Dohmke wurde auch vollstreckt, der Tyberg hat sich der Vollstreckung entzogen. Hat’s ja weit gebracht, der Mann. Und ist ein Mann von Welt gewesen, oder lebt er noch? Bin ihm mal bei einem Empfang in der Solitude begegnet, haben über die alten Zeiten gescherzt. Der hat verstanden, daß wir damals alle unsere Pflicht tun mußten.«
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»Was ich wissen möchte – hatte das Gericht damals Signale von oben bekommen, was den Ausgang des Verfahrens angeht, oder war es ein ganz gewöhnlicher Prozeß?«
»Warum interessiert ihn das? Wessen Maultaschen schmälzt er denn, der Selb?«
Die Frage mußte ja kommen. Ich erzählte ihm von einem zufälligen Kontakt mit Frau Müller und meiner Begegnung mit Frau Hirsch. »Ich möchte einfach wissen, was damals gewesen ist und was für eine Rolle ich gespielt habe.«
»Für eine Wiederaufnahme langt das nie, was Ihnen die Frau erzählt hat. Wenn
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