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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink , Walter Popp
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nichts, konnte vielleicht auch nichts ohne Stefan George.
    Im ›Café Gunde‹ lagen schon die Springerle fürs Weihnachtsfest aus. Ich erstand eine Tüte, wollte Judith auf der Fahrt nach Locarno damit überraschen.
    In meinem Büro lief alles wie geschmiert. Bei der Auskunft bekam ich die Telephonnummer des katholi-schen Pfarramts in Roth; der Kaplan unterbrach die Predigtvorbereitung nur zu gerne, um mir zu sagen, daß der Rother Führer der Georgspfadfinder seit eh und je Joseph Maria Jungbluth ist, Oberlehrer seines Zeichens.
    Oberlehrer Jungbluth erreichte ich gleich darauf, und er wollte gerne mit mir morgen am frühen Nachmittag über den kleinen Siegfried reden. Judith hatte bei Tyberg einen Termin für Sonntag nachmittag bekommen, und wir beschlossen, am Samstag zu fahren. »Tyberg ist gespannt auf dich.«
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    Da waren’s nur noch drei
    Auf der neuen Autobahn fährt man von Mannheim
    nach Nürnberg eigentlich zwei Stunden. Die Ausfahrt Schwabach/Roth geht dreißig Kilometer vor Nürnberg ab. Eines Tages wird Roth an der Autobahn Augsburg-Nürnberg liegen. Aber ich werde das nicht mehr erleben.
    Nachts war neuer Schnee gefallen. Auf der Fahrt hatte ich die Wahl zwischen zwei Spurrinnen, der ausgefahre-nen rechts und einer schmalen zum Überholen. An einem Lastwagen vorbeizufahren war ein schlingerndes Abenteuer. Nach dreieinhalb Stunden Fahrt kam ich an.
    In Roth gibt es ein paar Fachwerkhäuser, ein paar Sand-steinbauten, evangelische und katholische Kirche, Kneipen, die sich den soldatischen Bedürfnissen angepaßt haben, und viele Kasernen. Nicht einmal ein Lokalpa-triot könnte Roth als Perle Frankens bezeichnen. Es war kurz vor eins, und ich suchte mir einen Gasthof. Im
    ›Roten Hirschen‹, der dem Trend zum Fast food wider-standen und sogar noch seine alte Einrichtung bewahrt hatte, kochte der Wirt selbst. Ich fragte die Kellnerin nach einem bayerischen Gericht. Sie verstand meine Frage nicht. »Bayrisch? Mir sin in Frankn.« Also fragte 294
    ich sie nach einem fränkischen Gericht. »Alles«, sagte sie. »Unser ganze Kartn is fränkisch. Der Kaffee aa.«
    Hilfreicher Menschenschlag hier. Ich bestellte auf gut Glück Saure Zipfel mit Bratkartoffeln und dazu ein dunkles Bier.
    Saure Zipfel sind Bratwürste, werden aber nicht gebra-ten, sondern in einem Sud von Essig, Zwiebeln und Ge-würzen erhitzt. So schmecken sie auch. Die Bratkartoffeln waren herrlich rösch. Die Kellnerin ließ sich erwei-chen, mir nach dem Essen den Weg in die Allersberger Straße zu zeigen, wo Oberlehrer Jungbluth wohnte.
    Jungbluth öffnete die Tür in Zivil. Ich hatte ihn in meiner Phantasie in Kniestrümpfen, knielanger brauner Hose, blauem Halstuch und breitrandigem Pfadfin-derhut vor mir gesehen. Er erinnerte sich nicht mehr an das Pfadfinderlager, bei dem der kleine Mencke einen echten oder falschen Verband getragen und sich dadurch vor dem Abwaschen gedrückt hatte. Aber er erinnerte sich an anderes.
    »Er hat sich gerne gedrückt, der Siegfried. Auch in der Schule, wo er die erste und zweite Klasse bei mir war. Wissen Sie, er war ein verdruckstes Kind. Und ein ängstliches Kind war er. Ich versteh ja nicht viel von der Medizin, außer den Erste-Hilfe-Kenntnissen natürlich, die meine Aufgaben als Oberlehrer und Pfadfinderführer von mir fordern. Aber ich meine, man braucht einen Mut zum Selbstverstümmeln, und den Mut würde ich dem Siegfried nicht zutrauen. Sein Vater ist da aus einem anderen Holz.«
    Er brachte mich schon zur Tür, als ihm noch etwas 295
    einfiel. »Wollen Sie Photos sehen?« Auf dem Album stand 1968, die Bilder zeigten wechselnde Gruppen von Pfadfindern, Zelte, Lagerfeuer, Fahrräder. Ich sah die Kinder singen, lachen und Faxen machen, aber ich sah in ihren Augen, daß Pfadfinderführer Jungbluth den Schnappschuß kommandiert hatte. »Das ist Siegfried.« Er zeigte auf einen eher schmächtigen blonden Knaben mit verschlossenem Gesicht. Ein paar Bilder weiter entdeckte ich ihn wieder. »Was ist hier mit seinem Bein los?« Das linke Bein war im Gips. »Richtig«, sagte Oberlehrer Jungbluth. »Eine unangenehme Geschichte das. Ein halbes Jahr lang hat damals die Un-fallversicherung versucht, mir ein Aufsichtsverschulden anzuhängen. Dabei ist Siegfried ganz dumm gestürzt, als wir die Tropfsteinhöhle in Pottenstein besucht haben, und hat sich das Bein gebrochen. Ich kann doch nicht überall sein.« Er sah mich Zustimmung heischend an. Ich stimmte ihm gerne zu.
    Auf der Heimfahrt zog ich Bilanz.

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