Selbs Mord
Regen. Das Viertel war ein altes Villenviertel. Manche Häuser waren in altem Glanz wiederhergestellt, und Schilder zeigten die Firmen, Rechtsanwaltskanzleien oder Steuerberatungsbüros an, die eingezogen waren. Bei anderen bröckelte der Verputz, lagen die Backsteine bloß, waren Fenster und Türen sichtbar morsch und fehlte hier und da ein Balkon. Frau Soboda lief wortlos, und ich lief wortlos an ihrer Seite. Ich folgte ihr in eines der heruntergekommenen Häuser. Trennwand und Wohnungstür im zweiten Stock waren nachträglich eingebaut worden. Frau Soboda schloß auf und bat mich ins Wohnzimmer.
»Er ist nicht aus«, sie zeigte auf den großen grünen Kachelofen, »er ist nur runtergebrannt. Gleich wird es wärmer.« Sie schüttete Koks nach und machte die Lüftung auf.
»Ich …«
»Sie sind von der Polizei, ich weiß.«
»Wie …«
»Sie sehen genauso aus wie unsere früher. Ich meine die von der Firma. Von der Staatssicherheit. Wie Sie in die Bank gekommen sind und geschaut haben. Wie Sie die Bank den ganzen Tag nicht aus dem Auge gelassen haben – so, daß man es nicht gleich merkt, aber wenn man es doch merkt, kommt es auch nicht darauf an. Weil das Spiel ohnehin aus ist.« Sie musterte mich. »Sie sind aus dem Westen, und Sie sind älter als unsere früher. Trotzdem …«
Wir standen noch. »Kann ich meinen Mantel draußen aufhängen? Ich möchte Ihnen nicht den Teppich naß machen.«
Sie lachte. »Geben Sie her. Das hätten unsere früher nicht gefragt.« Als sie wiederkam, bot sie mir einen Sessel an, und als wir saßen, sagte sie: »Ich bin froh, daß es vorbei ist.«
Ich wartete, aber sie war in Gedanken verloren. »Mögen Sie einfach vorne anfangen?«
Sie nickte. »Lange habe ich nichts gemerkt. Ich denke, deswegen haben die mich auch die Bank leiten lassen. Ich habe mein Handwerk vor 1990 gelernt, von dem Bankgeschäft, wie ihr es kennt, nichts verstanden und mich erst langsam und mühsam eingearbeitet.« Sie strich die Decke auf dem kleinen Tisch zwischen ihrem und meinem Sessel glatt. »Ich habe wirklich geglaubt, das ist die Chance meines Lebens. Von den anderen Sparkassen wurden viele geschlossen, viele Kolleginnen und Kollegen entlassen, und die, die bleiben durften, mußten sich ganz hinten anstellen. Und hier war ich und wurde von der Kassiererin zur Leiterin. Eine Weile habe ich befürchtet, ich sei es nur geworden, damit einer von uns die Kolleginnen und Kollegen entläßt und von euch sich keiner die Finger schmutzig machen muß. Ich muß Ihnen nicht sagen, daß es oft genug so gelaufen ist. Aber nein, bei der Sorbischen ist niemand entlassen worden. Also hatte ich das große Los gezogen, und ich habe gebüffelt, bis … bis … bis die Ehe kaputt war.« Sie schüttelte den Kopf. »War keine gute Ehe. Wäre auch sonst kaputtgegangen. Aber vielleicht nicht gerade vor einem Jahr, als ich wie eine Besessene gelesen und gelernt habe. Und gemerkt habe, daß ich es schaffe, daß sich alles, was ich gelesen, gelernt, gesehen und richtig gemacht habe, richtig oft mit mehr Glück als Verstand, zusammenfügt. Inzwischen würde ich mir zutrauen, jede Bank vergleichbarer Größe im Westen zu leiten.« Sie sah mich stolz an. »Aber man wird mir keine geben, ohnehin nicht und jetzt schon gar nicht.«
Ich sagte, auch als Abbitte für die Traktoristin: »Wenn ich eine Bank hätte, würde ich Sie zur Leiterin machen.«
»Aber Sie haben keine.« Sie lächelte. Als sie geredet hatte, hatte ich die Klugheit in ihrem derben Gesicht gesehen. Jetzt sah ich den verhaltenen Liebreiz.
»Wann haben Sie gemerkt, was los ist?«
»Vor einem halben Jahr. Zuerst habe ich nur gemerkt, daß was nicht stimmt. Es hat ein bißchen gedauert, bis ich wußte, was. Dann wäre ich am liebsten zur Polizei gegangen. Aber der Rechtsanwalt, mit dem ich vorsichtig geredet habe, war nicht sicher, daß ich überhaupt zur Polizei gehen darf; es gibt anscheinend im Arbeitsrecht den Whistle Blower, der seinen Arbeitgeber verpfeift und gefeuert werden darf, obwohl der Arbeitgeber was gemacht hat, was er nicht hätte machen dürfen, und der Arbeitnehmer ihn zu Recht verpfiffen hat. Aber ich hatte nicht nur Angst, daß ich meine Arbeit verliere. Wissen Sie«, sie guckte mich herausfordernd an, »ich falle schon wieder auf die Füße. Aber was wird aus den Kolleginnen und Kollegen in der Sorbischen? Wir sind viele, wahrscheinlich viel zu viele, und ich glaube nicht, daß sich die Sorbische hält, wenn alles auffliegt.«
Je länger
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