Selbs Mord
zuvor oder ein schlechter Tag, wie man eben schlechte Tage hat. Am dritten war er schon nicht mehr in der Lage, viel zu denken.«
»Glaubst du das?«
»Was?«
»Daß jemand ein Medikament, das er braucht und Jahr um Jahr nimmt, plötzlich vergißt?«
Philipp breitete die Arme aus. »Wenn du was als Arzt lernst, dann daß es keinen Patienten gibt, den es nicht gibt. Vielleicht hatte Schuler die Medikamente satt. Oder es war ihm zu lange zu gut mit ihnen gegangen. Oder er hat aus Versehen falsche Tabletten genommen.«
»Oder nichts von alledem und etwas ganz anderes.«
»So leid es mir tut – so ist es. Vielleicht hat Schuler seine Tabletten tagein, tagaus genommen und nur am Abend zuviel Bier getrunken. Verrenn dich nicht, Gerd! Und paß auf dein Herz auf!«
9
Alter Kacker
Dann kam Georg aus Berlin zurück. Vor den Skins und auch vor den anderen hatte er sich in acht genommen. Und er hatte die Wiedergutmachungsakte von Labans Neffen gefunden.
»Wiedergutmachung fordern war kaum besser als die Sachen verlieren, für die es Wiedergutmachung gab. Zwei silberne Leuchter, zwölf silberne Messer, Gabeln, große und kleine Löffel, zwölf tiefe und flache Teller, eine Anrichte, eine Sitzgruppe aus Leder, geschätzter Wert, wann gekauft, wie lange gebraucht, gibt es Quittungen, gibt es andere Belege, gibt es Zeugen, warum wird der Schätzwert so angegeben, wie er angegeben wird, warum wurde das Eigentum aufgegeben, gibt es Zeugen dafür, daß die Wohnung in der Reichskristallnacht aufgebrochen und geplündert wurde, wurde der Verlust der Polizei gemeldet, wurde er einer Versicherung gemeldet – vielleicht ging es nicht anders, aber es war gräßlich. Dabei scheint es ihm in London nicht schlechtgegangen zu sein; er hatte eine Adresse in Hampstead und eine Galerie, die es noch gibt und die einen guten Namen hat.«
Wieder saßen wir uns in meinem Büro gegenüber. Sein Gesicht strahlte vor Eifer. Er war stolz auf das, was er entdeckt hatte, und wollte dranbleiben, wollte mehr und alles herausfinden.
»Was gibt’s noch zu wissen?«
Er sah mich an, als hätte ich eine dumme Frage gestellt. »Woher hatte er das Geld, in London so zu leben, wie er gelebt hat? Was ist aus seiner Schwester geworden? Wo ist der Nachlaß seines Großonkels geblieben? Es gab eine Büste von Laban, die in der Straßburger Universität stand und nach der auch ein Straßburger Professor sucht, mit dem ich gesprochen habe – stell dir vor, ich finde sie bei einem Trödler in Straßburg oder sonstwo im Elsaß. Jedenfalls weiß ich, wo ich in den nächsten Ferien hinfahre.«
Auch ich wußte, wo ich hinzufahren hatte. Auf dem Weg in den Emmertsgrund regnete es, aber als ich dort war, fegte der Wind die Wolken vom Himmel, und die Sonne schien. Der Blick nach Westen war ganz klar, und ich suchte und fand das Kernkraftwerk in Philippsburg, die Türme des Speyerer Doms, den Fernmeldeturm am Luisenpark und das Collini-Center, alles wie mit feinem Pinsel gemalt. Während ich schaute, türmten sich über den Bergen der Haardt die Wolken auf und bereiteten den nächsten Regen vor.
Der alte Weller saß im selben Sessel am selben Fenster, als hätte er sich seit meinem letzten Besuch nicht von der Stelle gerührt. Als ich saß, beugte er sich vor, bis seine Nase kurz vor meiner war, und musterte mit seinen schlechten Augen mein Gesicht. »Sie sind kein junger Mann. Sie sind ein alter Kacker wie ich.«
»Das heißt ›alter Knacker‹.«
»Was haben Sie eigentlich gewollt, als Sie das letzte Mal hier waren?«
Ich legte fünfzig Mark auf den Tisch. »Ihr Schwiegersohn hatte mich beauftragt, die Identität des stillen Teilhabers festzustellen, der um die Jahrhundertwende eine halbe Million bei Ihnen eingebracht hat.«
»Danach haben Sie mich nicht gefragt.«
»Hätten Sie was gesagt?«
Er schüttelte nicht den Kopf und nickte nicht. »Warum haben Sie mich nicht gefragt?«
Ich konnte ihm schlecht sagen, daß ich damals nicht für, sondern gegen seinen Schwiegersohn ermittelt hatte. »Mir hat gelangt rauszufinden, ob Ihre Generation Weller & Welker einen stillen Teilhaber tatsächlich einfach vergessen haben könnte.«
»Und?«
»Ich kenne Welkers Vater nicht.«
Er lachte meckernd wie ein Ziegenbock. »Der hat bestimmt nie was vergessen.«
»Sie auch nicht, Herr Weller. Warum haben Sie ein Geheimnis daraus gemacht?«
»Geheimnis, Geheimnis … Haben Sie den Auftrag meines Schwiegersohns erfolgreich erledigt?«
»Paul Laban, Professor in
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