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Selbs Mord

Selbs Mord

Titel: Selbs Mord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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Straßburg, der begehrteste, berühmteste und bestbezahlte Gutachter seiner Zeit, kinderlos, aber um seine Nichte und seinen Neffen und dessen Kinder bemüht. Es sieht nicht danach aus, als hätte eines von denen Freude an der hinterlassenen stillen Teilhaberschaft gehabt.« Ich wartete, aber er wartete auch. »Es war für Juden auch nicht die rechte Zeit, Freude an ihren Vermögen in Deutschland zu haben.«
    »Da haben Sie recht.«
    »Manchmal war es besser, ein bißchen was zu kriegen und ins Ausland zu schaffen, als alles zu verlieren.«
    »Was reden wir alten Kacker drum herum. Der Sohn des Neffen ist nach England emigriert, hat nichts aus Deutschland rausnehmen können, und auf unsere Veranlassung haben unsere Londoner Freunde dafür gesorgt, daß er dort nicht mit leeren Händen anfangen mußte.«
    »Und der Neffe mußte sich’s was kosten lassen.«
    »Umsonst ist der Tod.«
    Ich nickte. »In Ihren Unterlagen findet sich also ein Dokument von 1937 oder 1938, in dem der Neffe alle Rechte und Ansprüche aus der stillen Teilhaberschaft für erfüllt und erloschen erklärt. Ich verstehe, Sie halten es lieber unter Verschluß.«
    »Sie alter Kacker verstehen das. Aber heute zerrt man am liebsten alles hervor und posaunt es heraus. Weil man nicht versteht, wie es damals war.«
    »Ist auch nicht leicht zu verstehen.«
    Er wurde immer lebendiger. »Nicht leicht zu verstehen? Es war nicht schön, nicht erfreulich, nicht angenehm. Aber was ist schwer zu verstehen, wenn das alte Spiel gespielt wird, bei dem die einen was haben, was die anderen wollen? Es ist das Spiel der Spiele; es hält Geld, Wirtschaft und Politik in Bewegung.«
    »Aber …«
    »Kein Aber!« Er schlug mit der Rechten auf die Lehne des Sessels. »Machen Sie, was Sie zu machen haben, und lassen Sie die anderen besorgen, was sie zu besorgen haben. Banken haben ihr Geld zusammenzuhalten.«
    »Hat der Sohn sich nach dem Krieg noch mal gemeldet?«
    »Bei uns?«
    Ich antwortete nicht und wartete.
    »Er ist nach dem Krieg in London geblieben.«
    Ich wartete weiter.
    »Er hat sich geweigert, seinen Fuß noch mal auf deutschen Boden zu setzen.« Als ich nichts sagte, lachte er. »Was für ein hartnäckiger alter Kacker Sie sind.«
    Ich hatte ihn satt. »Es heißt nicht ›alter Kacker‹. Es heißt ›alter Knacker‹!«
    »Ha«, er schlug wieder mit der Hand auf die Lehne, »das hätten Sie gerne, wenn’s bei Ihnen noch knacken würde. Tut’s aber nicht. Seien Sie froh, wenn Sie noch kacken können.« Er lachte sein Ziegenbockmeckern.
    »Und?«
    »Sein Anwalt hat ihm klargemacht, daß bei uns nichts mehr zu holen ist. Die Inflation nach dem ersten Krieg, der schwarze Freitag, die Währungsreform nach dem zweiten Krieg – da bleibt auch von einem großen Haufen nur noch Mäusedreck. Es ist ja auch nicht so, daß er nicht reichlich bekommen hätte. Und die Gefahr, die wir auf uns genommen haben – wir hätten ins KZ kommen können.«
    »Sein deutscher Anwalt?«
    Er nickte und sagte gelassen: »Ja, damals haben wir Deutsche noch zusammengehalten.«

10
Reue?
    Ja, so waren sie. Drittes Reich, Krieg, Niederlage, Aufbau und Wirtschaftswunder – für sie waren es nur verschiedene Umstände, unter denen sie das gleiche betrieben: Sie mehrten, was ihnen gehörte oder was sie verwalteten. Es stimmte, wenn sie sagten, sie seien keine Nazis gewesen und hätten nichts gegen Juden gehabt und stünden auf dem Boden der Verfassung. Alles war ihnen nur Boden, auf dem sie standen und ihre Unternehmen größer, reicher und mächtiger machten. Dabei hatten sie das Gefühl, das zu tun, ohne das alles andere nichts ist. Was zählten Regierungen, Systeme, Ideen, die Schmerzen und Freuden der Menschen, wenn die Wirtschaft nicht florierte? Wenn es keine Arbeit und kein Brot gab?
    Körten war so gewesen. Körten, mein Freund, mein Schwager, mein Feind. So hatte er sich für die Rheinischen Chemiewerke im Krieg geschlagen, und so hatte er sie nach dem Krieg zu dem gemacht, was sie heute sind. Wie den anderen waren auch ihm Macht und Erfolg des Unternehmens und der eigenen Person eins geworden. Was er sich herausnahm, nahm er sich mit der Gewißheit heraus, der Sache zu dienen: den Rheinischen, der Wirtschaft, dem Volk. Bis er in Trefeuntec von der Klippe stürzte. Bis ich ihn von der Klippe stürzte.
    Ich habe es nie bereut. Manchmal habe ich gedacht, ich müßte es bereuen, weil es weder rechtlich noch moralisch in Ordnung war. Aber das Gefühl der Reue hat sich nicht eingestellt.

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