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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Welzer
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bewohnen und grün wählen, viel mehr zur inneren Befriedung der Gesellschaft bei als hartleibige Manager vom Typ Jürgen Grossmann oder Josef Ackermann, die entsprechend nun auch aus der Mode gekommen sind.
    Die Geschichtslosigkeit der Ökobewegung ist oft thematisiert worden, zuletzt von Joachim Radkau. [69]   Ich würde sie darauf zurückführen, dass sie für die Begründung von Interventionen gegen Zerstörungen und Verschmutzungen auch keine Geschichte braucht: Es genügt schon der aktuelle Status quo, der für schützenswert oder reparaturbedürftig erklärt wird. Solange man wissenschaftlich plausibel argumentieren kann, dass durch die Einleitung von Stoff X an Ort Y ein Schaden Z entsteht, der vermieden oder zumindest gemildert werden kann, braucht man keinen historischen Horizont. Insofern ist Geschichtslosigkeit für praktische Politik kein Hindernis, im Gegenteil.
    Für das Verstehen der eigenen Rolle in der Gesellschaftsentwicklung ist Geschichtslosigkeit allerdings äußerst hinderlich: Ohne ein Verständnis historischer Prozesse entgeht einem schnell, dass Maßnahmen zur Stützung eines Systems beitragen können, obwohl man sie zu seiner Abschaffung erdacht hat. Das gilt für die postfossile Wirtschaft genauso wie für das Instrument des Emissionshandels: Im einen Fall hat man übersehen, dass ein neues Energieregime ein altes nie ablöst, sondern lediglich ergänzt und damit das Energieangebot erhöht, im anderen, dass man Gewinnmöglichkeiten einführt, wo zuvor keine gewesen sind, wenn man Emissionen zum handelbaren Gut macht. Geschichtslosigkeit macht blind gegenüber nichtintendierten Folgen von Entscheidungen; ein historischer Horizont bietet demgegenüber den Vorteil, sich selbst und seine Optionen in einem Bedingungszusammenhang zu sehen, und führt in der Regel zu geringerer Euphorie und größerer Vorsicht, also zu mehr Fehlerfreundlichkeit und Reversibilität.
    Die Geschichtslosigkeit der Ökobewegung hat daher nicht zufällig zu jener auf den ersten Blick überraschenden Technikgläubigkeit geführt, die etwa darin zum Ausdruck kommt, dass man Elektrofahrräder für einen ökologischen Fortschritt hält, obwohl ihr Unterschied zum traditionellen Fahrrad hauptsächlich darin besteht, dass sie Strom verbrauchen und schwerer sind. Oder dass man der naiven Auffassung ist, dass erneuerbare Energien keine mineralischen oder fossilen Rohstoffe verbrauchen, weil sie ja eben »erneuerbar« heißen – was man für die Herstellung, den Betrieb und die Entsorgung von Solar- und Windkraftanlagen an Material und Energie braucht, ist in diesem Begriff ja nicht berücksichtigt. Schließlich: Es hat bislang historisch keinen großflächigen Technologieeinsatz gegeben, der nicht mit heißen Hoffnungen auf eine Verbesserung der Umweltsituation eingeführt worden wäre und dann unvorhergesehene und unerwünschte Kollateraleffekte mit sich gebracht hätte. Die Einführung des Autos war in amerikanischen Städten mit der Hoffnung verbunden gewesen, die ökologischen Probleme loszuwerden, die aus der Pferdehaltung resultierten: »Um ein Pferd zu füttern, bedurfte es zwei Hektar Land, so viel, wie zur Ernährung von acht Menschen nötig war. In Australien, wo um 1900 ein Pferd auf zwei Menschen kam, musste ein bedeutender Anteil der Getreideproduktion des Landes für die Erhaltung der Pferde aufgewendet werden. In den USA wurde im Jahr 1920 auf einem Viertel allen Ackerlandes Hafer angebaut. Der Hafer war die Energiequelle für das auf Pferdekraft beruhende Transportproblem. Die Versorgung der Tiere war aber nur ein Teil des Problems. Die Pferde verschmutzten die Straßen mit Tausenden Tonnen Mist. Die Städte begannen zu stinken, der Mist lockte Fliegen an, Krankheiten breiteten sich aus. In den Großstädten mussten jährlich 10000 bis 15000 Pferdekadaver von der Straße geräumt werden. Zu den Verlockungen des Automobils gehörte daher um 1910 neben seinen vergleichsweise glimpflichen Emissionen auch die Hoffnung, dass es die Städte von den Umweltproblemen, die die Pferde schufen, befreien würde.« [70]  
    Ebenso groß waren die Hoffnungen, die in den künstlichen Stickstoff als Dünger gesetzt wurden oder in die friedliche Nutzung der Atomenergie – und zeigten später erst ihre gigantischen nichtintendierten Folgen: von der dauerhaften Degradation überdüngter Böden bis zu Tschernobyl, Fukushima und der unlösbaren Entsorgungsfrage. Desgleichen schützt Geschichtsbewusstsein vor dem Aberglauben,

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