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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Welzer
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»Atomstaat« und entwarf darin eine totalitäre Sicherheitsarchitektur, die ganz unausweichlich wäre und die Freiheitsrechte radikal einschränke. [67]  
    Neben dem nichtsubkulturellen Charakter des Protests gegen die Atomtechnologie ist damit gleich noch ein zentraler Erfolgsfaktor sozialer Bewegungen angesprochen: Während wir, jetzt spreche ich als Zeitzeuge, als Schüler durch den Matsch von Brokdorf stapften und uns am Bauzaun von Grohnde mit der Polizei prügelten, schrieben in den Feuilletons Autoren wie Carl Amery, Hans Jonas, Ivan Illich, Walter Jens und eben Robert Jungk und gaben dem, was wir machten, die unverzichtbare Legitimation und den intellektuellen Überbau. Kurz: Der Widerstand umfasste gesellschaftliche Gruppen von Jugendlichen bis hin zu den Deutungs- und Funktionseliten. Als solcher war er nicht so einfach zu vereinnahmen, blieb nicht das partikulare Anliegen einer isolierbaren Subkultur, erzielte Gewinne in der Ökonomie der Aufmerksamkeit, bekam politische Relevanz und wurde so zur öffentlichen Angelegenheit. Wie sehr, das zeigt die Etablierung einer grünen Partei, die ohne die Anti-AKW-Bewegung kaum denkbar und sicher nicht so erfolgreich gewesen wäre, und heute eben die ungleichzeitige Energiewende als nationaler Alleingang, während der Rest der Welt weiterhin auf die zivile Nutzung der Kernenergie setzt.
    Im Protest gegen die Atomkraft hatte die deutsche Ökobewegung am deutlichsten eine politische Signatur. Er integrierte linke Positionen gegen die rücksichtslose Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen, liberale gegen den Polizei- und Überwachungsstaat und ökologische und konservative gegen die Hybris naturvergessener Großtechnologie. Kurz: Hier trafen Fragen und Haltungen über das richtige und das falsche Leben einen breiten gesellschaftspolitischen Resonanzkörper. Und was meine persönliche Geschichte angeht: Hier habe ich gelernt, dass politische Sozialisation primär nicht über Inhalte geschieht, sondern über die Gemeinsamkeit von Erfahrung im Prozess des Dagegenseins. Ich glaube, dass uns die Atomtechnik an sich weniger geängstigt hat als die Form, in der der Staat sie durchzusetzen beabsichtigte; dasselbe gilt für die beabsichtigte Stationierung von Pershing-Raketen, die uns dann nach Bremerhaven fahren ließ und in den Bonner Hofgarten, um »für den Frieden« zu demonstrieren. Ich habe keine Sekunde Angst davor gehabt, im finalen Atomschlag vom Typ »Dr. Seltsam« zu verdampfen, aber es war eine enorm wichtige Erfahrung, zusammen mit anderen erfolgreich gegen etwas sein zu können.
    Dieses politisch-psychologische Bewegungsmoment braucht geradezu zwingend ein gewisses Maß an Irrationalität, Sexyness und Neugierde; keine soziale Bewegung überzeugt ihre Anhänger und Gegner durch Belehrung oder wissenschaftliche Beweisführung. Und damit wären wir beim Pferdefuß der Entwicklung, die die Ökologiebewegung in den folgenden Jahrzehnten genommen hat.

Das Politische wird antiutopisch
    Das Gefühl einer durch Gemeinschaftlichkeit verstärkten eigenen Kraft und das Ausprobieren von Widersetzlichkeit gegenüber Autoritäten ermöglicht zugleich zu erfahren, dass alles anders sein kann , wenn man sich nur dafür einsetzt. Eine solche Erfahrung ist ein starkes Bollwerk gegen Gleichgültigkeit; die Psychologie nennt das die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Mir scheint, dass es genau das ist, was der Ökologiebewegung im Lauf ihrer Entwicklung abhandengekommen ist. Sie gab es auf andere Weise zuletzt in der friedlichen Revolution, die zum Ende der DDR und des ganzen Sowjet-Imperiums führte. Aber in dem Fall war sie nicht nachhaltig, weil sie nicht den Ausgangspunkt für die autonome Entwicklung einer neuen gesellschaftlichen Formation bildete, sondern lediglich für eine freundliche Übernahme durch jenen Typ von Wirtschaft, der keine Feinde kennt. So standen mit nicht geringer Überraschung auch diejenigen, die nach dem Mauerfall kurz von einem »Dritten Weg« zwischen real existierendem Sozialismus und real existierendem Kapitalismus geträumt hatten, vor der vollendeten Tatsache, dass sie schon Teil einer anderen Gesellschaft geworden waren. Obwohl sie noch links blinkten, waren sie schon rechts abgebogen. Aber das ist eine andere Geschichte.
    Bezeichnend ist jedenfalls, dass die politische Ökologiebewegung – die zunächst ein Sammelbecken aller möglichen Systemabweichler vom DDR-Dissidenten und späteren Sannyasin Rudolf Bahro über konservative

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