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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Welzer
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der politische Markt: Was mehrheitsfähig wird, wird adaptierbar durch alle anderen.
    Wenn man in weiterer historischer Perspektive sieht, wie antiutopisch die »Ära der Ökologie« im Vergleich zur Ära der Aufklärung (mit ihren Raumutopien wie Francis Bacons »Nova Atlantis« oder Thomas Morus’ »Utopia«) oder der Arbeiterbewegung (mit ihren Zeitutopien Sozialismus und Kommunismus) ist, wird deutlich, wie eng die Ökobewegung immer der Gegenwart verhaftet blieb. Dem Status quo hatte sie keine Vision entgegenzusetzen, sondern wollte ihn lediglich kritisieren und verbessern.
    Mit dieser Utopieferne hängt ein eklatanter Mangel an Reflexivität zusammen: Wenn ich vor allem die Schäden im Auge habe, die Fischereiunternehmen und Chemiekonzerne anrichten, gerät ja schnell aus dem Blick, dass die Fische für einen Markt gefangen und die Waschmittel für einen Markt produziert werden, auf dem ich selber auftrete. Diese Form der Betrachtung hat den Vorteil, dass ich Probleme immer genau dort identifizieren kann, wo ich nicht bin, weshalb ich elegant Forderungen nach dem Abbau von Missständen erheben kann, ohne meine eigene Position ins Spiel zu bringen.
    Gewiss gab und gibt es in der Ökobewegung einen Zweig, der sich emphatisch antikolonialistisch und antiimperialistisch gibt und betont hat, dass sich der hiesige Wohlstand dem Elend andernorts verdankt, aber allzu häufig führt diese Perspektive auch nur zur rituellen Wiederholung von Sätzen wie dem, dass »man die internationale Dimension nicht vergessen« dürfe, und zum Einkaufen in »Eine-Welt-Läden«. Was politisch daraus folgen würde, dass sich der Westen seit dem Kolonialismus einen nachhaltigen Reichtums- und Organisationsvorteil verschafft hat, ist mit dem Kauf von »fair« gehandeltem Kaffee nicht beantwortet und wurde nie zum Fundament grüner Politik. Auch hier war die Konzentration auf die korporativen Akteure von BP über Coca-Cola bis Monsanto naheliegender: Was die anrichteten und anrichten, lässt sich besser skandalisieren als der eigene Beitrag dazu, dass sie das anrichten können. Von daher erklärt sich die Vorliebe für die Emission und die Abneigung gegen die Extraktion. Würde man diese nämlich stärker in den Vordergrund rücken, wäre die selbstreflexive Antwort auf die Frage, für wen denn das alles aus den Böden und Gewässern geholt wird, unausweichlich: für mich! Zu den Emissionen kann man sich ganz anders verhalten: Da gibt es immer jemand anderen als mich, der schuld ist.

Geschichtslosigkeit
    Menschen glauben oft, sie seien schon nicht mehr Teil der Mehrheit, wenn sie diese kritisieren. Aber moderne Gesellschaften sind funktional differenziert: Sie sehen unendlich viele Nischen und Subkulturen vor, in die man sich zurückziehen bzw. zu denen man gehören kann. Dort findet man die, die so denken wie man selbst, die »gegen« die gleichen Dinge sind oder die dieselben Werte haben. Mit anderen Worten: Moderne, hoch arbeitsteilige Gesellschaften integrieren über Differenz, nicht über Homogenität. Jede Behörde, jeder Betrieb, jede Universität besteht aus differenten Subgruppen, die sich voneinander abgrenzen, um sich selbst zu definieren. [68]   Das zerstört nicht den Zusammenhang des sozialen Aggregats, es begründet ihn.
    Auch die Opposition kann Teil der Mehrheitsgesellschaft sein; in modernen Demokratien ist das sogar der Regelfall. Moderne Gesellschaften benötigen kritische Subkulturen: Sie öffnen Räume für Veränderung, kanalisieren Unmut, modernisieren, indem sie Reibungsflächen bilden. Das ist immer ein Problem für Gruppen, die gewaltfrei gegen bestehende Verhältnisse rebellieren – die geschmeidige Adaptierungsfähigkeit von modernen Marktgesellschaften ist ohne weiteres in der Lage, sie zu »mainstreamen«, und das ist nicht nur dem Punk, sondern natürlich auch der Ökobewegung passiert. Dagegen ist auch nichts zu sagen, solange man sich dessen bewusst ist, dass man auf diese Weise Teil der Normalgesellschaft wird und sie nicht »von außen« kritisiert, sondern zu ihr beiträgt. Wenn aber dieses Bewusstsein verlorengeht oder nie vorhanden war, unterliegt man einem Selbstmissverständnis und glaubt, man sei »dagegen«, obwohl man in der Praxis nur die Rolle des Dagegenseins übernommen hat und gerade darin sehr dafür ist. In diesem Sinn tragen zum Beispiel Angehörige der Funktionseliten, die einen anspruchsvollen, aber ökologisch sensiblen Lebensstil pflegen, ein Hybridauto fahren, ein Passivhaus

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