Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
Meeresspiegelanstieg könnte bis 2100] das Dreifache heutiger Werte erreichen: neun bis zehn Millimeter pro Jahr. […] Bei der ehrgeizigeren Politik, die die Erwärmung auf 1,5 Grad begrenzt, dürften die Meere um insgesamt 1,5 Meter anschwellen. Der Anstieg würde bis zum Jahr 2300 zum Stillstand kommen. Die Zwei-Grad-Politik hätte hingegen zur Folge, dass die Ozeane um 2,7 Meter steigen. Werte zwischen 1,6 und 4,0 Metern wären auch möglich. Außerdem würde sich der Meeresspiegel im Jahr 2300 immer noch gut doppelt so schnell erhöhen wie heute, ein Ende wäre nicht in Sicht. Verpasst die Politik einen effektiven Klimaschutz, ist bis 2300 mit einem Anstieg um bis zu fünf Meter zu rechnen, bei ungebremster, viermal so schneller Zunahme wie heute. Viele Inseln und Städte würden bewohnte Küstenstreifen verlieren. In New York bewirke schon ein Anstieg um einen Meter, dass schwere Überflutungen im Mittel alle drei Jahre statt einmal im Jahrhundert auftreten«. [76]
Manchmal denke ich, die meisten wissenschaftlichen Ergebnisse könnten auch ruhig in der Schublade verschwinden, sie müssen nicht zwingend die Öffentlichkeit erreichen. Auch in diesem Fall. Dass die Forscher sich die Welt in 300 Jahren offenbar noch so vorstellen, wie sie jetzt ist, nur feuchter (vor 300 Jahren hatte New York übrigens 5700 Einwohner und war gut im Fellhandel), ist an Naivität kaum zu überbieten. Und ihr Zahlengeballer, das auf Computermodelle mit ständig höherer Rechenkapazität zurückgeht, impliziert aber auch nicht das Geringste für die Gegenwart, zumal ja inzwischen in der Klimaforschung Einigkeit herrscht, dass das (politische, nicht wissenschaftliche) »Zwei-Grad-Ziel« nicht zu halten sein wird. Aber kein heute lebender Mensch, und sei er noch so zukunftsbewusst, würde sein Handeln an einem Horizont von mehreren Jahrhunderten ausrichten. Für so etwas braucht man entweder eine Religion oder politische Hybris – die Letzten, die solche Weitsicht hatten, waren Adolf Hitler und Pol Pot. Weniger zukunftsbewusste Menschen situieren sich selbst und ihre Absichten im gelebten Generationenhorizont, also etwa im Rahmen eines Jahrhunderts. Mehr wäre auch gar nicht sinnvoll, weil, wie die Klimaforscher selbst ja andauernd feststellen, die Erde ein System voller Wechselwirkungen ist, weshalb die lachhaften Jahresmillimeter der Modelle durch irgendeine nichtlineare Wirkung sich ja genauso gut in Zentimeter Anstieg oder Rückgang verwandeln können. Oder in Meter. Oder in was auch immer – Maßstäbe sind ja historisch gleichfalls variabel.
Die außerwissenschaftliche Kommunikation solcher Befunde führt also eher zu Verdummung; innerwissenschaftlich machen derlei Ergebnisse durchaus Sinn, weil weitere Diskussionen und Berechnungen daran ansetzen können. Politisch ruiniert die Kommunikation solcher Daten allerdings alles, was an der Klimaforschung je politisierend gewesen wäre: zum Beispiel die dringliche Mitteilung, dass man in das Erdzeitalter des Anthropozäns übergetreten und die Menschen die am stärksten wirkende geologische Kraft geworden sind. Das ist in der Tat revolutionär: Bedeutet das doch, dass wir nicht mehr oder wenigstens nicht mehr ausschließlich Objekt der Naturverhältnisse sind, sondern dass die Natur Objekt von Sozialverhältnissen geworden ist. Das ist allerdings eine Vertiefung der Dialektik der Aufklärung, die sich Max Horkheimer und Theodor W. Adorno nicht hätten vorstellen können, als sie schrieben, dass jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, desto tiefer in ihn hineinführe. [77] Dieser Satz gilt im Anthropozän mehr als je zuvor; denn die Rückwirkungen der menschlichen Einflüsse auf das Erdsystem sind, wie allein die Zunahme der Extremwetterereignisse zeigt, heute noch unabschätzbar, sicher aber verheerend.
Gerade darum aber täte der internationalen Community der Klimaforscher ein wenig Gesellschaftstheorie nicht schlecht. Denn der »Natur«, dem »Klima«, den »Weltmeeren« ist ja völlig gleichgültig, ob sie sich verändern oder nicht. Das bewusste Registrieren von Umweltveränderungen bleibt den Menschen vorbehalten; es bedarf eines Subjektes, und zwar eines, das sich darüber klar ist, dass sein Leben endlich ist. Erst aus diesem Bewusstsein resultieren Vorausschau, Planung und Vorkehrung. Die Erde plant so wenig wie das Meer, und auch wenn die Menschen verschwunden sind, wird die Biosphäre weiterexistieren. Deshalb sind alle ökologischen Fragen nie etwas
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