Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
anderes als soziale und kulturelle Fragen: Sie betreffen immer die Existenzbedingungen menschlicher Überlebensgemeinschaften. Wenn diese Gemeinschaften naturwissenschaftliches Wissen und Technik für die Erhaltung ihrer Überlebensbedingungen einsetzen, bleibt dieser Einsatz eine soziale Handlung und etabliert eine soziale Praxis. Diese diente immer und dient auch heute noch in einem sehr grundlegenden Sinn der Beherrschung äußerer Natur – diese ist im Anthropozän womöglich noch bedrohlicher als im Holozän, da sich ja kaum vorhersagen lässt, welche nicht-linearen Wirkungen eine globale Erwärmung um drei, vier oder fünf Grad mit sich bringen würde. Die Klimaforschung hat eine Reihe von sogenannten Tipping points identifiziert, die die unangenehme Eigenschaft haben, sich ab dem Erreichen eines Schwellenwerts mit einer nicht antizipierbaren Dynamik zu entwickeln. Das ist die Dialektik des Anthropozäns: Die möglichst weit vorangetriebene Naturbeherrschung und die herrschende Kultur immer weiter perfektionierter Fremdversorgung schafft Kontrollverluste ungeahnten und unplanbaren Ausmaßes. Man könnte es auch so sagen: Erdbeben, Tsunamis, Überschwemmungen – das gehört zum Erwartbaren und ist in lokale Resilienzstrategien ebenso eingebaut wie in die Berechnungen der Versicherungen und Rückversicherungen. Die Menschheit hat ein paar hunderttausend Jahre Erfahrung mit solchen Dingen, auch damit, dass sie nie beherrschbar waren. Mit den kommenden Tipping points kennt sie sich aber leider nicht aus.
Die wiederum einfache Wahrheit lautet: Vollständige Naturbeherrschung bleibt ein unerfüllbarer Traum, solange Menschen Naturwesen sind, und jeder Versuch, äußere Natur zu beherrschen, verändert auch die innere Natur, entlässt sie also keineswegs aus dem Naturzwang. Kultur ist nie etwas anderes als ein spezifischer Ansatz von Naturbeherrschung. Da solche Ansätze historisch bekanntlich sehr unterschiedlich erfolgreich ausfallen können, sollte sich auch in der Klimaforschung allmählich herumsprechen, dass Überlebensfragen Kulturfragen sind, die naturwissenschaftlich zwar informiert werden können, aber nie naturwissenschaftlich zu lösen sind. Leben ist keine Gleichung, und Gesellschaften sind keine komplexen Gleichungen. Im Gegenteil: Gleichungen sind Erfindungen von Gesellschaften, die, wie Norbert Elias sagen würde, ein hohes Syntheseniveau erreicht haben. Mathematische Modelle sind Weltdeutungsversuche auf hohem Abstraktions- und Syntheseniveau, nicht mehr und nicht weniger.
Das vergessen die meisten Vertreter und Vertreterinnen der Natur- und Technikwissenschaften, falls sie es überhaupt je gewusst haben. Dieses Vergessen ist allerdings folgenreich: führt es doch zu der fatalen Vorstellung, die Welt ließe sich auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Daten und Befunde einrichten. Die Naivität, mit der heute Gesellschaft und ihre Transformation gedacht werden, ist nur ein weiterer Beleg dafür, wie sehr Geschichte und Gesellschaftstheorie fehlen, wenn nach Strategien gegen die fortschreitende Zerstörung der Überlebensbedingungen gesucht wird. Dass »Lösungen« primär auf technologischer und ökonomischer Ebene angestrebt werden, dokumentiert einmal mehr die Wirksamkeit der kulturellen Bindung: In einer Kultur, die von Technologie und expansiver Ökonomie in der Tiefe geprägt ist, kann das ja auch kaum anders sein.
Genau daraus resultiert die Konzentration der Aufmerksamkeit auf den Klimawandel und die Vernachlässigung aller anderen Umweltthemen in der öffentlichen und vor allem in der politischen Debatte. Spätestens seit den alarmierenden Berichten, die der IPCC zum Jahresbeginn 2007 publizierte, rückte der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur in der Rangreihe der ökologischen Besorgnisse nach ganz vorne – und das, obwohl psychologisch eigentlich alles gegen diese Prominenz spricht:
Erstens wäre da die schon erwähnte zerdehnte Zeitstruktur zwischen Ursachen und Wirkungen, die den Klimawandel psychologisch so schwer erfahr- und greifbar macht: Die heute zu verzeichnenden Steigerungen in der globalen Durchschnittstemperatur gehen auf die rasant angewachsenen Emissionsmengen in der Nachkriegszeit zurück . Die Ursachen für die heute zu beobachtenden Folgen der Erwärmung – Hitzesommer, Überschwemmungen, Tornados in Mittelhessen usw. – haben keinen direkten Zusammenhang mit dem, was man gerade tut, sondern mit dem, was Menschen vor vier oder fünf Jahrzehnten
Weitere Kostenlose Bücher