Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
getan haben. Wegen dieser Trägheit hätten auch alle Maßnahmen, die heute ergriffen würden, messbare Wirkung erst in wiederum vier bis fünf Jahrzehnten, was die Leidenschaft für sofortiges Handeln eher kühl hält.
Die zerdehnte Kausalität macht den Klimawandel unschuldig . Konkrete Verursacher lassen sich nicht identifizieren oder nicht mehr haftbar machen; konkrete Leidtragende leben vor allem in der Zukunft. Das ist gut: Vorwürfe aus der Nachwelt sind wenig bedrohlich. Niemand scheint verantwortlich, weshalb man auch niemanden anklagen oder unschädlich machen kann: »Da müsste ich ja vor meinem eigenen Kamin demonstrieren«, zitiert Joachim Radkau einen Politiker der »Grünen«. [78] Exakt das wäre die Konsequenz. Ernst genommen lautete der Imperativ, der aus der globalen Erwärmung folgt: Niemand kann so weitermachen wie bisher. Diesem Imperativ kann man sich nur entziehen, wenn man das Phänomen naturalisiert: Wie bei einem Naturereignis finden sich weder Verursacher noch Schuldige. Da muss schon »die Weltgemeinschaft« her, um eine Lösung zu finden. Da es die nicht gibt, bleibt alles, wie es ist.
Zweitens ist das Bedingungsgefüge, das für die Klimaerwärmungsfolgen ursächlich ist, mindestens so vielfältig und komplex wie die faktischen Wirkungen, die aus der Erderwärmung resultieren: Wie CO 2 , Methan und andere Treibhausgase aus industrieller Produktion, Viehzucht, Heizungen und Mobilität resultieren, so wechselwirken diese Emissionen mit Veränderungen in den Senken, also zum Beispiel den Ozeanen und Regenwäldern. Die Auswirkungen der Klimaerwärmung fallen lokal so unterschiedlich aus wie ihre Erscheinungsformen: Dürren gehören genauso zu ihnen wie Überschwemmungen, Eisschmelzen genauso wie lokale Abkühlungen, Starkregen genauso wie Hitzesommer. Und während Erwärmungsfolgen an der einen Stelle des Planeten zur radikalen Einschränkung von Überlebensmöglichkeiten und zu Krieg führen, [79] schaffen sie an einer anderen Stelle erfreuliche Aussichten für den Tourismus oder für den Wein- oder Obstbau.
Wenn alles mit allem zusammenhängt, scheint es schier aussichtslos, durchzublicken, und noch aussichtsloser, irgendwo Maßnahmen anzusetzen. Wenn etwas aus jeder Perspektive verschieden aussieht, fällt schwer, zu entscheiden, welches »die richtige« ist. Daher ist es so schwierig, den Klimawandel zu politisieren: Führt man ihn auf den ressourcenübernutzenden Lebensstil des Westens zurück, kommt sofort das Argument, genau diesen könne man den Bewohnerinnen und Bewohnern der Schwellenländer doch nicht vorenthalten (seltsam, dass diese egalitäre Haltung bei keinem anderen transnationalen Gerechtigkeitsthema vorzufinden ist). Fordert man dagegen die Einschränkung von Mobilität und Konsum hierzulande, wird sofort »Ökodiktatur« gerufen und die Freiheit bedroht gesehen (seltsam, dass diese Freiheitsfreunde bei Google oder facebook nichts Diktatorisches wittern). Darin sind Bewohner von Mediengesellschaften geübt: Zu jedem noch so plausiblen Argument findet sich ein gegenläufiges, in jeder Talkshow sitzt demgemäß irgendein Professor, der den abseitigsten Unsinn zu vertreten bereit ist, nur damit er im Fernsehen sein darf. Die Einfachheit des zentralen wissenschaftlichen Befundes, dass die Praxis der Ressourcenübernutzung mittelfristig entweder nicht durchzuhalten oder aber nicht universalisierbar ist, wird durch die Komplexitätsbehauptung kaschiert. Aus dem einfachen Argument folgt eine unangenehme Konsequenz. Aus dem komplexen: gar nichts.
Drittens: Es gibt keine Regierungskunst für den Umgang mit globalen Problemen. Wie man ein Problem, das im Kern eine Folge der Industrialisierung ist, in dem Augenblick lösen soll, in dem immer mehr Gesellschaften weltweit Industrie gesellschaften werden, ist völlig schleierhaft. Dass die regelmäßig stattfindenden internationalen Klimaverhandlungen regelmäßig zu nichts führen, ist demgemäß auf die international äußerst disparaten und ungleichzeitigen Interessen zurückzuführen. Die einzige bislang in Ansätzen praktizierte transnationale Lösung, der Emissionshandel, ist so unverständlich und in seinen Folgen bizarr, dass der Eindruck beim Publikum, dass man es mit einem höchst abstrakten Phänomen zu tun hat, nochmals verstärkt wird. Da der Handel so konstruiert ist, dass Emissionseinsparungen, die beispielsweise die Kunden eines Energieanbieters leisten, dazu führen, dass dieser weniger
Weitere Kostenlose Bücher