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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Welzer
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heute ist nicht genau sortiert, ob die Philosophie der Veränderung der Welt hinterherhinkt, ob also die Hegel’sche Eule der Minerva ihren Flug immer erst in der Dämmerung beginnt oder ob nicht gelegentlich das Denken den realen Transformationen weit voraus ist und diese anbahnt. Und davon ganz abgesehen: Schon die gebauten Infrastrukturen haben höchst ungleiche Eigenzeiten. Ein Kanalisations- und ein Verkehrssystem haben eine größere Beharrungskraft als ein Universitätssystem, eine kulturelle Versorgungsinfrastruktur eine andere als eine medizinische. Daher wird die Transformation, wie immer sie aussieht, widersprüchlich, uneinheitlich, ungleichzeitig sein. Eine Kombinatorik, deren Gestalt wir noch nicht kennen.
    Überhaupt ist, wieder mit Blick in die Geschichte, ja kaum die Frage, welcher Typ Revolution die nachhaltigere Wirkung entfaltet: diejenigen, die schon von den Zeitgenossen als solche verstanden und intentional herbeigeführt worden sind – also der Typus der politischen Revolution wie etwa die Französische oder die russische. Oder der Typus der formativen Revolution , die das Antlitz von Staaten und schließlich der ganzen Welt tiefgreifend transformiert, und zwar ohne dass die Tragweite der Verwandlung in actu von den Zeitgenossen bemerkt würde. Historisch betrachtet spricht viel dafür, dass die sukzessive und nicht die abrupte Veränderung von Produktions- und Konsumverhältnissen wirkmächtiger und nachhaltiger ist [89]    – was übrigens ein weiteres Argument gegen den von der Klimaforschung artikulierten Zeitdruck ist. Insgesamt jedenfalls braucht man auf dem Weg in eine nachhaltige Moderne keinen Masterplan. Im Gegenteil ist hier der Weg schon die Utopie: Er wird zeigen, wie produktiv es ist, Fehler zu riskieren, wenn man Reversibilität systematisch ermöglicht, wie sinnvoll es ist, Erfahrung nur als bis auf weiteres als hilfreich zu betrachten, überhaupt einen jeweiligen Status quo lediglich als Vorschlag, nicht als Seinsbehauptung zu verstehen.

Achtsamkeit
    Wenn man also nicht in die Falle tappen will, in die die gescheiterten Gesellschaften geraten sind, indem sie die Strategien intensivierten, mit denen sie unter Normalbedingungen erfolgreich waren, muss man seine Handlungsmaximen radikal umstellen: nicht Effizienz, sondern Achtsamkeit, nicht Schnelligkeit, sondern Genauigkeit, nicht Weitermachen, sondern Innehalten wären Maximen für den Weg in die reduktive Moderne.
    Die Organisationspsychologen Karl Weick und Kathleen Sutcliffe haben untersucht, wie Unternehmen lernen können, das Unerwartete zu managen. [90]   Sie haben dafür sogenannte High-Reliability-Organisationen analysiert – Institutionen, bei denen das Eintreten unerwarteter Ereignisse nicht einfach nur unangenehme, sondern katastrophale Folgen haben kann. Beispiele dafür sind Atomkraftwerke, Flugzeugträger, Feuerwehren, Krisenteams, die bei Geiselnahmen eingesetzt werden, Katastrophenschützer etc. Die Arbeit in solchen Organisationen zielt vor allem darauf ab, dass bestimmte Ereignisse nicht eintreten – weshalb einen ganze Reihe von Eigenschaften, die in anderen Organisationen als wertvoll gelten, hier problematisch sind: Jede Form von Routine etwa ist ein Problem, weil sie die Sensibilität in Bezug auf sich ankündigende Probleme unterminiert. Erfahrung ist kontraproduktiv, weil sie dazu führt, dass man ein Ereignis vorzeitig für etwas hält, was schon mal vorgekommen ist und was man daher wie üblich betrachtet und behandelt – ein häufig tödlicher Fehler. »Erfahrung an sich«, schreiben Weick & Sutcliffe, »ist noch kein Grund für Sachkenntnis, weil Menschen sehr häufig immer wieder dieselbe Erfahrung machen und wenig tun, um diese Wiederholungen zu etwas Neuem weiterzuentwickeln«. [91]   Erfahrung kann zur Falle werden, wenn etwas so aussieht wie ein Ereignis, das man kennt, in Wahrheit aber etwas ganz anderes ist – das Challenger-Unglück ist auf diese Weise ebenso entstanden wie der Super-GAU von Tschernobyl.
    Erfahrungen sind dann hilfreich, wenn man es mit Vorgängen zu tun hat, die jenen gleichen, an denen man die Erfahrungen gemacht hat – für die zutreffende Einschätzung präzedenzloser Ereignisse sind Erfahrungen dagegen meist irreführend. Auch Pläne sind nach Daten und Abläufen entwickelt, die man schon kennt, und deshalb haben sie oft die verhängnisvolle Wirkung, haargenau an den Anforderungen und Aufgaben vorbeizuführen, die man eigentlich anzugehen hätte, um

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