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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Welzer
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ein unerwartetes Problem zu bewältigen. »Das uneingeschränkte Streben nach Vorausschau mittels Planung und Forschung kann gefährliche Folgen haben. Es unterstellt ein Maß an Verstehen, das man unmöglich erreichen kann, wenn man es mit unsicheren und dynamischen Verhältnissen zu tun hat. Es vermittelt den Beteiligten die Illusion, sie hätten die Lage im Griff, und macht sie blind für die sehr reale Möglichkeit einer Fehleinschätzung.« [92]   Für den Umgang mit Unerwartetem kommt es vor allem darauf an, Sensorien dafür zu entwickeln, dass sich etwas ankündigt oder abzeichnet, das die routinemäßige Behandlung sofort überfordern würde – das heißt, es geht gerade darum, misstrauisch gegenüber der Erfahrung zu sein und die Dinge immer aufs Neue in Augenschein zu nehmen.
    Und es geht auch darum, auf Unerwartetes nicht mit Rückgriff auf »bewährte« Rezepte zu reagieren, sondern so schnell wie möglich die unterschiedlichsten Kompetenzen zu versammeln, die zu einer zutreffenden Problembeschreibung und -analyse beitragen können. Denn häufig fehlt es schon daran: zu erkennen, welches Problem überhaupt vorliegt.

Monument der Achtsamkeit: Flugzeugträger.
    Eine Kultur der Achtsamkeit (»mindfulness«) sortiert daher nicht alles, was einem in die Optik kommt, sofort in die Kategorien des schon Bekannten und Gewussten. Achtsamkeit bedeutet eine permanente Prüfung und Überarbeitung bestehender Erwartungen, dazu eine erhöhte Aufmerksamkeit auf mögliche Fehler und Abweichungen – kurz: ein permanentes Lernen in einer Umgebung, die in ständiger Veränderung begriffen ist. Achtsamkeit ist nichts anderes als die stetige Aktualisierung seiner Beobachtungen und Deutungen, aber was sich so schlicht anhört, hat einen Paradigmenwechsel in den Prioritäten zur Voraussetzung, nach denen man handelt: Wie Erfahrung hinderlich ist und Pläne problematisch sind, so gelten nun Fehler nicht als schlecht, sondern als eminent wichtige Quellen von Informationen – Informationen darüber, welchen Lauf die Dinge nehmen können. Während das normale Verhalten Fehler zu vermeiden und, wenn sie geschehen sind, möglichst zu vertuschen sucht, gilt hier der Fehler als etwas sehr Wertvolles: Entsprechend werden Mitarbeiter, die auf Fehler hinweisen, in High-Reliability-Organisationen auch nicht gemobbt, sondern ausgezeichnet.
    »Achtsamkeit gründet in der Erkenntnis«, schreiben Weick & Sutcliffe, »dass Wissen und Unwissenheit gemeinsam wachsen. Wenn das eine zunimmt, nimmt auch das andere zu. Achtsame Menschen akzeptieren die Tatsache ihrer eigenen Unwissenheit und geben sich große Mühe, ihre Lücken aufzudecken, weil sie sehr wohl wissen, dass jede neue Antwort eine Vielzahl von Fragen aufwirft. Die Macht einer achtsamen Orientierung besteht darin, dass sie die Aufmerksamkeit vom Erwarteten auf das Irrelevante umlenkt, von den bestätigenden Hinweisen auf die Gegenbeweise, vom Angenehmen auf das Unangenehme, vom Sicheren zum Ungewissen, vom Expliziten zum Impliziten, vom Faktischen zum Wahrscheinlichen und vom Übereinstimmenden zum Widersprüchlichen. Achtsamkeit und Aktualisierung wirken den vielen toten Winkeln entgegen, die sich in der Wahrnehmung entwickeln, wenn Menschen zu sehr auf ihre Erwartungen vertrauen.« [93]  
    Der Einwand, der Sie jetzt schon seit ein paar Absätzen ganz ungeduldig macht, lautet natürlich: In welcher Welt lebt der eigentlich? Während wir uns jetzt wie Hans im Glück tiefenentspannt auf den Weg machen und eine Kultur der Achtsamkeit experimentieren sollen, läuft der Rest der Welt leider in die genau entgegengesetzte Richtung und zerstört in jeder Stunde mehr, als wir in Jahren retten können! Dieser Einwand ist zweifellos berechtigt, er hat nur einen Nachteil: Aus ihm folgt nichts. Denn erstens macht der Rest der Welt auch dann nichts anderes, wenn unsereins so weitermacht wie bisher; er kann das sogar viel ungestörter, wenn andere Möglichkeiten unprobiert und ungezeigt bleiben. Die Moderne bleibt dann ausschließlich die expansive Moderne; eine reduktive Moderne nur eine unausgeschöpfte Möglichkeit.
    Und zweitens würde man sich bei keiner anderen Entscheidung, die damit zu tun hat, wie man leben möchte, daran orientieren, was der Rest der Welt macht. Sie denken ja keine Sekunde an »den Chinesen« oder »den Inder«, wenn Sie sich ein Auto bestellen, einen Flug buchen, eine Versicherung abschließen, ein Haus kaufen oder eine Schule für Ihr Kind aussuchen. All das

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