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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Welzer
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Mallorca oder in Sri Lanka verabreicht. Die Gespräche der zurückgekehrten Urlauber in den Rail-and-fly-Zügen sind dann auch danach: wie das Essen war, die »Anlage«, das Wetter. Auch die Tourismusindustrie hat die Wunschwelten längst überholt; heute kann man, wenn man unbedingt will, den Mount Everest besteigen oder Rafting im Grand Canyon machen. Kein unerfüllter Wunsch, nirgends.
    Dass die meisten Wünsche und Träume der Wirtschaftswunderjahre von der Wirklichkeit überholt worden und abgestanden sind, zeigt sich auch an der radikal absinkenden Innovationskurve der einstmaligen Traumindustrien: Schon lange frage ich mich, warum die Astronauten zu dieser Weltraumstation fliegen, die da aus unerfindlichen Gründen im Orbit kreist; das ist doch nichts gegen die Mondlandung! Oder warum die Phantasie neureicher Gesellschaften nicht weiter reicht, als ein noch höheres Gebäude zu bauen – es wird ohnehin nie an den Wunschinhalt des Empire State Building oder des Chrysler Building heranreichen! Oder warum Autos und Flugzeuge einfach nur größer werden statt etwas ganz anderes! Oder warum so ein grotesker Wüstenstaat keine bessere Idee hat, als sich in eine Kitschkulisse in Palmenform zu verwandeln, wo die doch alles Geld der Welt hätten, mal was Interessantes zu machen!
    Das alles ist nur noch Wirtschaft ohne Wunder. Und da sind wir exakt dort, wo man in aller Klarheit sieht, dass die expansive Kultur gar nichts mehr zu bieten hat: Die einzige relevante Erfindung der letzten vier Jahrzehnte, die sie hervorgebracht hat, war das Internet und die mobile Kommunikation. Alles andere ist die Moderne von gestern, von phantasieunbegabten Ingenieuren gescheucht zur emotionsfreien Sinnlosigkeit. Ohne jede Schönheit. Kitsch.
    Kein Zufall, dass die Traumindustrie par excellence – Hollywood – nur Dystopien zu bieten hat, wenn sie in die Zukunft schaut, »I am Legend«, »Inception«, »The Road« sind Apotheosen zukünftiger Einsamkeit. Und wenn es um Abenteuer geht, liegen die alle in der Vergangenheit, bei den »Pirates of the Carribean« oder in den 1930er Jahren, bei »Indiana Jones«, als eben das Wünschen noch geholfen hat. Dazwischen nur öde Komödien, die die sterbenslangweilige Gegenwart verdoppeln. Glamour ist eine Kategorie von vorvorgestern, und niemand war realistischer als Andy Warhol mit seiner Prognose, dass irgendwann jedermann ein Star sein würde, für 15 Minuten.
    Ich weiß nicht, wohin sich Teenies heute träumen, kann mir aber nicht vorstellen, dass ihr Wunschhorizont schon bei DSDS erreicht ist. Und der Eskapismus der Eventindustrie, der mit Achterbahnen, Bungee-Jumping, allen Arten von Climbing usw. sogenannte extreme Bedürfnisse bedient, ist so sehr Spiegelbild der Leistungsgesellschaft, das man sich fragt, wieso das eigentlich niemandem von denen auffällt, die da kopfüber in der Gegend hängen. Als könnten sie sich nichts Besseres vorstellen.

Freizeitidioten.
    Mir scheint, gerade die Träume des 20. Jahrhunderts sind es, die im 21. Jahrhundert alt geworden sind. Die Wunschwelt des ALLES IMMER ist in den frühindustrialisierten Ländern zur Wirklichkeit geworden und hat sich so entzaubert, dass die Anbieter sie nur noch bedienen können, in dem sie ihre Produkte in immer kürzeren Zyklen auf den Markt bringen. Was Traum war, ist mit seiner Realisierung Sucht geworden: Nur die Erhöhung der Dosis hilft noch beim Wünschen.
    Aber: Welche Geschichte soll man darüber denn erzählen? Dass man jetzt das »Samsung Galaxy SIII« hat, ist keine Geschichte. Und eine dieser Urlaubsreisen wird höchstens dann berichtenswert, wenn wegen eines isländischen Vulkans kein Flieger mehr geht und man in der Abflughalle übernachten muss. Noch weniger Erzählstoff bieten die Wochenenden in den Wellness-Gulags. Das Problem ist: Es gibt keine Wünsche mehr, wenn man alles haben kann, keine Träume, wenn man alles sein kann. Und nichts zu erzählen, wenn man alles erlebt.
    Das ist exakt der Punkt, an dem man ansetzen kann, wenn man eine andere Geschichte über sich und die Zukunft zu erzählen beginnt: Wie man in diesem geheimnislosen Universum jederzeitiger Bedürfnisbefriedigung wieder Autonomie und Zukunft entdecken kann. Wie man nicht immer schon angekommen ist, sondern sich auf den Weg macht. Wie nicht schon alles fix und fertig ist, sondern gefunden werden muss. Wie man nicht mehr Produkt ist, sondern Gestalter. Mit einem Wort: wenn man eine Geschichte über sich zu erzählen beginnt, in der man

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