Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
nicht nur Wohlstand und Konsummöglichkeiten mit sich gebracht hat, sondern mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaften eben auch Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Sozialversorgung, Gesundheitsversorgung, Recht auf Bildung.
Nichts davon muss utopisch aufgeladen werden: Das ist ein schon errungener zivilisatorischer Standard in Gesellschaften unseres Typs, und die Suche nach der verlorengegangenen Zukunftsfähigkeit ist ja gerade auch dadurch begründet, dass man diesen Standard nicht preisgeben darf. Deshalb wäre eine Ökodiktatur auch weder wünschenswert noch funktionsfähig, sondern in der Konsequenz eine phantasielose Technokratie, die opfert, was sie zu retten vorgibt: ein lebenswertes, gerechtes Modell von Kultur. Also: Die Utopie des 21. Jahrhunderts ist weder techno- noch autokratisch verengt; sie hat schon viel, was sie behalten will, und sie hat vor, das erstmals nicht auf dem Weg der Expansion, sondern dem der Reduktion zu sichern. Die konkrete Utopie heißt: Zivilisierung durch weniger. Nämlich durch weniger Material, weniger Energie, weniger Dreck. Neugier, Sehnsucht nach anderem, Wünsche und Träume darf es dagegen durchaus mehr geben: Sie sind die eigentlichen Produktivkräfte des Zukünftigen.
Die Eleganz einer auf diese Weise vorerinnerten Zukunft besteht darin, dass man sich weder der scheinbaren Widerspruchsfreiheit einer theoretischen Konstruktion unterwerfen noch daraus abgeleitete (Fünf- oder Zehn-Jahres-) Pläne abarbeiten muss. Die Zukunft wird nur auf einem Weg zu erreichen sein, der selbst durch Irr- und Abwege, unpassierbare Stellen, gute Passagen, Steigungen und Gefälle, kurz: durch alles andere als Gradlinigkeit gekennzeichnet ist. Das ist keine Zukunft für Zwangscharaktere, weil man sich von vornherein als fehlerfreundlich verstehen muss, wenn man in eine andere Zukunft gelangen möchte: Wir wissen ja eben heute noch nicht, wie denn eine nachhaltige moderne Welt aussieht, die frei, demokratisch, sicher, gerecht auf der Basis eines Ressourcenbedarfs ist, der gegenüber heute um den Faktor fünf bis zehn verringert ist. Weil unser kulturelles Modell technoid und expansiv geprägt ist, wissen wir lediglich etwas über die technologische Seite einer solchen Zukunft, kaum etwas aber über die kulturelle Formatierung von Arbeit, Mobilität, Ernährung, Wohnen, Zeit in einer solchen Welt. Das heißt: Wir kennen nur die Welt nach Plan A, noch nicht die nach Plan B, C, D, E usw.
Also entwirft man den nächsten und allenfalls den übernächsten Schritt auf Probe und prüft, wie das Ergebnis jeweils ausfällt: ob man so weiterkommt oder nicht. Man denke hier nur an die hübsche Idee mit der Erzeugung von Energie aus Biomasse: ein sozialer und ästhetischer Irrweg, den man tunlichst nicht weiterverfolgen sollte. Die Heuristik einer nachhaltigen Moderne ist deshalb ein Utopisches-bis-auf-Weiteres und kennt daher auch Handlungsmaximen, die der nichtnachhaltigen Moderne völlig wesensfremd sind: probieren, abbrechen, aufhören, innehalten, pausieren. Kein Masterplan also, sondern immer nur ein Patchwork aus unterschiedlichen Experimenten: welche Erfolge und Probleme die Implementierung von Cradle to Cradle in der diversifizierten Produktion mit sich bringt, wie genossenschaftliche Organisationsformen auf große Konzernstrukturen zu übertragen sind, wie reduzierte Mobilität mit besserer Gesundheits- und Bildungsversorgung gekoppelt werden kann, wie ein verändertes Energieregime veränderte Beteiligungsformen fordert usw. Für alles das gibt es Ideen und zum Teil schon Realexperimente, aber noch keine gesellschaftliche Synthese. Es weiß auch niemand, welche immanenten Widersprüche eine solche Synthese aushalten müsste: Zum Beispiel wird man die berühmte Entschleunigung mit Gewinn für viele Lebensbereiche fordern, sicher aber nicht für den Katastrophenschutz, die Feuerwehr oder die Notfallmedizin.
Der Weg in eine nachhaltige Moderne ist ein Weg ganz unterschiedlicher Geschwindigkeiten, aber das ist kein prinzipielles Problem. Auch die erste industrielle Revolution war ein höchst ungleichzeitiger Prozess – die Produktivitätssteigerung in der Stahlproduktion oder die Geschwindigkeit der Verstädterung etwa eilten der Auflösung von Traditionen weit voraus; deren Zeitrhythmen hinkten den Synchronisierungserfordernissen der Fabrikarbeit lange hinterher, weshalb Industriearbeit lange Zeit erst mal ein Prozess handfester, gewalttätiger Disziplinierung war. [88] Bis
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