Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
menschenwürdige Existenz und daher wissenschaftlich nicht verhandelbar.
Utopien
Utopien können gefährlich werden, wenn sie in die Hände von Leuten geraten, die aus ihnen mit aller Macht Wirklichkeit machen wollen. Aber Utopien sind ein großartiges Mittel, um Denken und Wünschen zu üben: sich einen wünschbaren Zustand in einer denkbaren Zukunft zu imaginieren, macht den Status quo zu lediglich einer Variante von vielen möglichen Wirklichkeiten. Und die Imagination einer wünschbaren Zukunft zieht natürlich auch gleich Überlegungen nach sich, wie das Zusammenleben der Menschen, die Organisation der Städte und des Verkehrs, das Bildungswesen und die Wirtschaft besser eingerichtet werden könnten als in der unvollkommenen Gegenwart. Mit dem erstaunlichen menschlichen Vermögen, sich im Tempus der vollendeten Zukunft vorstellen zu können, ergibt sich auch eine Methode: von dieser imaginierten Zukunft her den Weg zu rekonstruieren, den man zurückgelegt haben muss, um dort hingelangt zu sein. Das nennt man neudeutsch »backcasting«, aber man kann auch den altmodischeren, jedoch viel tieferen Begriff der »Vorerinnerung« von Edmund Husserl nehmen, um aus der Zukunft zurück auf die Schritte zu blicken, die man zu ihrem Erreichen zurücklegen musste.
Vorerinnerungen: das sind mentale Vorgriffe auf etwas erst in der Zukunft Existierendes. Sie spielen als Orientierungsmittel für die Ausrichtung von Entscheidungen und Handlungen in der Gegenwart eine mindestens so wichtige Rolle wie der Rückgriff auf real oder vorgestellt erlebte Vergangenheiten. Alfred Schütz hat das in seinem Konzept der »antizipierten Retrospektionen« weiterentwickelt, [87] die für menschliches Handeln eine zentrale Rolle spielen – jeder Entwurf, jeder Plan, jede Projektion, jedes Modell enthält einen Vorgriff auf einen Zustand, der in der Zukunft vergangen sein wird. Und genau aus diesem Vorentwurf eines künftigen Zustands speisen sich Motive und Energien – aus dem Wunsch, einen anderen Zustand zu erreichen als den gegebenen.
Sich nach vorwärts zu erinnern – darin besteht die Heuristik des Zukünftigen, und das wird mehr sein als eine banale »Gegenwart plus«, die ein bisschen technologisch aufgepimpt ist. Es muss schon besser, gerechter, schöner und nachhaltiger zugehen in unserer vorerinnerten Zukunft, und wie alle Erinnerungsarbeit wird auch die an der Zukunft eine kunstvolle und kreative Montage ganz unterschiedlicher Elemente, von Vor- und Rückblenden, von Fehlern und Korrekturen, von Versuchen und Irrtümern sein.
Utopien werden gefährlich, wenn sich jemand daranmacht, einen Masterplan zu entwickeln, um direkt umzusetzen, was wünschbar erscheint. Soziale Masterpläne haben immer den Nachteil, dass es Individuen und Gruppen gibt, die sich den aus der Utopie gefolgerten Beglückungsvorstellungen nicht fügen mögen oder können – oder dass umgekehrt die jeweilige Theorie der Menschheitsbeglückung zwingend voraussetzt, dass erst mal einige Gruppen und Einzelpersonen beseitigt werden müssen, weil sie der perfekten Einrichtung der Welt leider im Wege stehen. Die beiden großen Masterplan-Utopien des zwanzigsten Jahrhunderts, der Kommunismus und der Nationalsozialismus, haben demgemäß insgesamt ein paar hundert Millionen Menschenleben gefordert, im einen Fall, um den theoretisch festgestellten Niedergang der »absterbenden Klassen« zu beschleunigen, im anderen Fall, um »den ewigen Gesetzen der Natur« ein wenig nachzuhelfen und die »minderwertigen Rassen« zu versklaven oder zu vernichten. Dass sich die »Realisierung des Utopischen« (Hans Mommsen) weder von theoretischen Widersprüchen irritieren noch von Irrtümern aufhalten lässt, zeigt die Geschichte: Jeder Wunsch, jede Theorie, jeder denkende Mensch kann in die Kategorie der Dinge einsortiert werden, die unbedingt beseitigt gehören. Der Faschismus genauso wie die vielen Spielarten kommunistischer Beglückungsexperimente von Stalin über Mao bis zu Pol Pot haben gezeigt, dass die Skala sozialen Irrsinns nach oben offen ist.
Um die Übersetzung von Sozialutopien in die Wirklichkeit kann es daher nicht gehen, wenn man darüber nachdenkt, wie Gesellschaften unseres Typs so zu transformieren wären, dass sie aus der Sackgassenlogik der Wachstumswirtschaft aussteigen und Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit zu ihren fundierenden Prinzipien erheben. Man muss an dieser Stelle auch noch mal daran erinnern, dass die industrielle Revolution
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