Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
sind ja Entscheidungen unterschiedlicher Tragweite für den Fortgang Ihres Lebens, bei keiner spielt der Rest der Welt auch nur die geringste Rolle. Warum dann ausgerechnet da, wo es um das Einschlagen der Richtung geht, in der die Zukunft liegt?
Schließlich: Was geht Sie der Rest der Welt eigentlich an? Keine Lichtgestalt hat am Tag Ihrer Geburt neben Ihrer Wiege gestanden und Ihnen mit hohler Stimme die Mission aufgegeben: »Lars, du bist zu uns gekommen, um die Welt zu retten!« Warum argumentieren Sie dann, als ob das der Fall wäre? Es genügt völlig, wenn Sie die Verantwortung für Ihr eigenes Handeln übernehmen.
Insgesamt also lautet der Befund einmal mehr: Es findet sich kein plausibles Argument dafür, nichts zu tun. Das Fehlen eines Masterplans gibt Ihnen sogar die Freiheit, Fehler zu machen und Misserfolge zu haben, sogar sich selbst als jemanden zu erleben, der sich Fehler nicht übelnimmt. Die Zukunft wird offener, als sie es im Augenblick ist. Ein günstiges Angebot.
Ohne Masterplan
Allerdings: Das Fehlen eines Masterplans hat auch einen erheblichen Nachteil. Historisch entfalten große Ideen, wenn sie mit einiger Plausibilität und Verve eine bessere Welt versprechen, Dynamik: Sie sprechen das Gefühl und die Identität an. Das gilt für die nationalsozialistische »Volksgemeinschaft« genauso wie für die Befreiungsversprechen aus Unterdrückung, Knechtschaft und Ungerechtigkeit, die die sozialistischen Utopien anzubieten hatten. Auch die relative Friedfertigkeit, mit der sich die kapitalistische Wirtschaftsform seit 1989 über die Welt verbreitet hat, spricht Bände über die guten Gefühle, die die konsumistischen Attraktionswelten zu entfalten vermögen. Das Versprechen von mehr Wohlstand, mehr Teilhabe, mehr Versorgung, mehr Komfort, das der Kapitalismus zu offerieren hat, ist ja nicht leer, sondern spiegelt sich in der konkreten Lebenswelt der aufsteigenden Gruppen in den aufsteigenden Ländern wider. Genauso wie es sich in westeuropäischen Lebenswelten der vergangenen Jahrzehnten gespiegelt hat: Ich verdiene das Zehnfache von dem, was mein Vater verdient hat, lebe auf der doppelten Wohnfläche, habe zwanzigmal mehr von der Welt gesehen. Nach unserem Kulturmodell ist das gelebter, erlebter Fortschritt, keine Chimäre.
Ohne Masterplan hat man diesem bislang eingelösten Versprechen auf expansiven Fortschritt scheinbar kaum etwas entgegenzusetzen. Die emotionale Sexyness der Aufforderung »Lasst uns von allem weniger haben!« ist arg begrenzt in einer Kultur, die in jeder Faser auf Expansion geeicht ist. Da liegt die Schwäche des modularen Experimentierkastens für eine nachhaltige Moderne, den ich anzubieten habe. Das nun sieht nach einem ziemlich schwachen Angebot aus.
Aber: Wird eine Geschichte eigentlich dadurch machtvoll, dass sie die Wirklichkeit auf ihrer Seite hat? Oder wird sie machtvoll, wenn Wünsche und Träume über eine andere, bessere Zukunft ihren Antrieb bilden? Wenn das so wäre, und dafür spricht einiges, hat die alte Geschichte, die die westliche Welt seit zwei Jahrhunderten über sich erzählt, ihren emotionalen Kern, ihre Wunschenergie längst verloren. Wir haben ja schon alles, was wir uns – materiell – erträumt haben. Wir waren auch schon überall. Wir können auch überallhin. So wie Glück durch weitere Zufuhr von Geld und Waren ab einem bestimmten Niveau nicht mehr nennenswert steigerungsfähig ist, so bekommen auch Wünsche und Träume eine gewisse Sättigung, wenn sie von der Realität eingeholt werden. Wenn mein Autoquartett-Traumauto Ferrari Daytona mit seinen 280 Stundenkilometern Höchstgeschwindigkeit vom Traumfußballer Günter Netzer tatsächlich auf einer deutschen Autobahn gefahren und er dabei gesehen werden konnte, dann blieb bei diesem zur Wirklichkeit gewordenen Traum eine Menge zu wünschen übrig: ein Spitzensportler zu werden, einen Ferrari zu fahren, schnell zu sein. Wenn sich heute irgendein stinkreicher Nobody einen 400 Stundenkilometer schnellen Bugatti Veyron in die Garage stellt, weil man den auf keiner Autobahn der Welt ausfahren kann, fehlt das Traumhafte völlig (zumal das Ding auch noch von Volkswagen hergestellt wird).
Und schien es in den 1960er Jahren noch als etwas Besonderes, nach Spanien, Ägypten, gar nach Südamerika zu reisen, ist das heute allerpiefigster Standard, und im Modus »all-inclusive« ist es auch völlig egal, ob man sich die kostenlosen Drinks an einer Strandbar in der Dominikanischen Republik, auf
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