Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
Frage immer mehr zu einer naturwissenschaftlich-technischen vereinseitigt hat. Die Funktion solcher Vereinseitigung ist ganz klar: Sie erlaubt den Traum zu träumen, dass auch eine nachhaltige Welt so viel Wohlstand, Komfort und Fremdversorgung vorhält wie die bisherige nicht-nachhaltige. Die Autos fahren dann eben mit Strom; ein fetziges Motorgeräusch dazu lässt sich von Sounddesignern komponieren. Audi, Mercedes und Porsche machen das ja heute schon. Die technische Verengung der ökologischen Frage ist irreführend: So günstig wird es die Zukunft nicht geben.
Der Weg in eine nachhaltige Moderne wird viele Umstellungen, Umnutzungen und Umwertungen erfordern, vor allem aber wird er zu erkämpfen sein, weil andere etwas zu verlieren haben. Diejenigen, die das kapitalistische Betriebssystem auf Hochtouren laufen lassen, haben kein Interesse an Nachhaltigkeit, tun also alles dafür, dass es in der verbleibenden Zeit weitergeht wie bisher. Dagegen muss Widerstand geleistet werden, denn jeder Tag Wachstum heute bedeutet weniger Ressourcen morgen.
Das ist aber nicht zu verwechseln mit dem Argument der Klimaforscher, dass man nur noch wenig Zeit zum Umsteuern habe – allgemein ist davon die Rede, dass man nur noch sieben Jahre Zeit für ein radikales Zurückfahren der Treibhausgasemissionen habe; danach könne das »2-Grad-Ziel« nicht mehr gehalten werden. Das mag so sein, kann aber allenfalls ein flankierendes Argument abgeben, das die Notwendigkeit praktischer Veränderung unterstützt. Denn wie wir leben möchten: Das ist eine soziale und kulturelle Frage. Ihre Beantwortung und Umsetzung folgt kulturellen und sozialen Logiken, und die haben mit Naturgesetzen nichts zu tun. Deshalb kann man den Zeitrahmen, den man für die Politik der Transformation braucht, nicht aus den Modellen der Klimaforschung herauslesen. Es würde ja auch niemand die Gestaltung des eigenen Lebens nach den Sterbetafeln des statistischen Bundesamtes entwerfen.
Ganz ähnlich wird beim sogenannten Euroretten regelmäßig behauptet, dass man keine Zeit zum Diskutieren und Abwägen habe – die »Märkte« seien beunruhigt und müssten daher so schnell wie möglich kalmiert werden. Ein solches Argument ist für demokratische Verfahren irrelevant: Wenn es Zeit braucht, um zu einer Entscheidung zu kommen, dann braucht es eben Zeit. Dasselbe gilt für den Umbau unseres Gemeinwesens: Wenn der Weg dahin Zeit braucht – und er wird sie brauchen, schon allein, weil kein Masterplan existiert –, dann braucht er eben Zeit, Klimaforschung hin oder her.
Demokratien bauen ihre Entscheidungen nicht auf wissenschaftliche Theorien. Die beiden politischen Systeme, die das im 20. Jahrhundert getan haben, waren totalitär und tödlich; allein das sollte einen gründlich darüber belehrt haben, dass man die Entscheidung darüber, wie man leben will, nie der Wissenschaft überlassen kann. [86] Wissenschaft kann Entscheidungen informieren, sie kann auf erwartbare Probleme hinweisen, Szenarien entwerfen und auch warnen. Aber die lebendige Aushandlung, wie man leben will, was zum Beispiel Bildungs- und Erziehungsziele sind, was die Werte sind, die handlungsorientierend sein sollen – das alles kann nur außerwissenschaftlich begründet werden und ist in freien Gesellschaften immer das vorläufige Ergebnis von Kontroversen, Aushandlungen und Konsensbildungen. Also immer das Ergebnis einer sozialen Praxis. Die Vorstellung, der Energieverbrauch, die Ernährungskultur oder die persönliche Mobilität sei auf Grundlage der Befunde einer wissenschaftlichen Disziplin zu reglementieren, ist horribel. Wer legt denn in einer funktional differenzierten Gesellschaft fest, wer, wo, wie viel zu verbrauchen hat? Führt das zur Einführung von Energiesparlampen in Operationssälen oder zur Zwangseinweisung von Hartz-IV-Empfängern in Passivhäuser? Wer möchte die Ergebnisse der überbordenen Phantasie aushalten, die Öko-Bürokraten entwickeln, wenn sie irgendetwas verregeln dürfen?
Daher kann ausschließlich gesellschaftlich darüber befunden werden, wie viel Zeit gebraucht wird, um den notwendigen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft einzuleiten und voranzutreiben. Die Klimaforschung hat das genauso hinzunehmen wie die Finanzindustrie: Soziale Praxis hat ihre Eigenzeit und ihre Eigenlogik. Freiheit hat so wenig einen Preis wie die notwendigen Überlebensbedingungen, die ein »Ökosystem« bereithält. Beide sind notwendige Voraussetzungen für eine
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