Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
vorkommt.
Solche Geschichten sind (und waren immer) Geschichten vom Aufbruch, vom Anfangen, vom Entdecken, und sie handelten von unerwarteten Begegnungen im Raum und in der Zeit. Abenteuer- wie Bildungsromane haben das gemeinsame Merkmal, dass ihre Protagonisten sich selbst verändern, indem sie sich auf den Weg machen. Am Ende sind sie andere geworden, und das macht die eigentliche Verlockung aus. Nie waren Geschichten von Aufbruch attraktiver als jetzt: in der zeit- und transzendenzlosen Gegenwart. Die Grundregel stammt von Henry James: Abenteuer erlebt nur der, der sie zu erzählen weiß.
Lebenskunst, schon bald [94]
Ihre Schlagbohrmaschine ist kaputt. Also setzen Sie sich an den Computer, klicken auf otto.de; Sie wollen sich das aktuelle Angebot zeigen lassen. Aber zu Ihrer großen Überraschung bekommen Sie kein einziges Produkt gezeigt, nachdem Sie »Bohrmaschine« in die Suchmaske getippt haben, stattdessen werden Sie gefragt: »Warum möchten Sie eine neue Bohrmaschine kaufen?« Erstaunt antworten Sie: »Weil meine defekt ist.« Nächste Frage: »Worin besteht der Defekt? Er lässt sich möglicherweise beheben.« Auf Ihre Antwort, dass das Gerät einfach überhaupt nichts mehr tut, nennt Ihnen otto.de eine Reihe von Adressen: »Wir empfehlen Ihnen die folgenden Elektriker in Ihrer Nähe, die als Vertragspartner mit Otto zusammenarbeiten. Möchten Sie, dass wir einen Kontakt zu einem Reparateur herstellen?« Sie antworten: »Nein! Zeigen Sie mir bitte Produkte.« Daraufhin werden, wie Sie es gleich zu Anfang erwartet hatten, endlich alle verfügbaren Bohrmaschinen gezeigt.
Eine ganz neue von Bosch sieht am besten aus, ein Bohrhammer mit ordentlich Durchschlagskraft, dazu niedrigste Geräusch- und Effizienzklasse. 319 Euro. Was soll’s? Man kauft so ein Ding ja nicht alle Tage. Also kaufen? Kaufen. Statt nun aber auf Ihren Klick hin die Maschine »in den Warenkorb« zu legen, fragt otto.de schon wieder etwas: »Wie oft benutzen Sie Ihre Bohrmaschine durchschnittlich pro Jahr?« Sie überlegen. Gute Frage. Na, so vier-, fünfmal werden es schon sein. Allmählich sind Sie gespannt, was nun als Nächstes kommt. Otto teilt mit: »Unsere Beraterinnen und Berater sind der Auffassung, dass es sich bei Ihrer Nutzungsfrequenz nicht lohnt, so eine Maschine zu kaufen. In Ihrer Nachbarschaft hat eine Person unlängst die gleiche Maschine gekauft und sich als Leihgeber registrieren lassen. Sie können die Maschine bei ihm ausleihen.« Das wird ja immer besser, denken Sie. Wer verleiht denn seine Bohrmaschine? »Möchten Sie diese Option wählen? Wünschen Sie den Kontakt?« Klar wünschen Sie den Kontakt, jetzt schon aus Neugier. Otto berechnet 3,95 Euro für die Vermittlung, fairer Preis. Und bietet die kostenfreie Abholung der defekten Maschine an. Jetzt haben Sie 315,05 Euro gespart. Und eine Last weniger. Auf dem Bildschirm erscheinen die Kontaktdaten des Leihgebers. Der Näumann! Hab ich mir gedacht, denken Sie, der hat sowieso alles. Aber super, mit dem wollte ich längst mal wieder plaudern. Der hat auch so eine nette Frau. Sie klicken auf »Beenden«. Auf dem Bildschirm erscheint: »Vielen Dank, dass Sie bei Otto gefragt haben! Übrigens: Kunden, die die von Ihnen gewünschte Bohrmaschine ebenfalls nicht gekauft haben, haben auch folgende Artikel nicht gekauft: Akkuschrauber Bosch PX 17, Winkelschleifer Black & Decker WS 34/3, Werkzeugkoffer Konfix XL.«
Keine schlechte Geschichte, oder? Sie passt in eine Welt, die ihre Intelligenz nicht mehr in die Vermehrung von Produkten, sondern in die der Nutzung steckt: soziale Intelligenz. Der Kollateraleffekt: Sie haben nicht nur mehr als 300 Euro gespart, sondern Ihren ökologischen Rucksack durch Nichtkonsum wesentlich leichter gehalten, als wenn Sie überflüssigerweise diese schicke Maschine gekauft hätten. Und vor allem: Sie haben mal wieder bei Näumanns reingeschaut. Natürlich war es keine Frage, dass Sie sich die Maschine ausleihen konnten. Schließlich hatte er sich ja als Leihgeber registrieren lassen. Sie haben dann aber noch ein paar Gläser Wein zusammen getrunken. Bei der zweiten Flasche haben Sie kurzerhand beschlossen, aus Ihrer Nachbarschaft eine Mikrogenossenschaft zu machen. Zusammen mit den anderen Leuten aus der Straße würden Sie jetzt einen kleinen Fonds auflegen, aus dem Rasenmäher, Gartenschläuche, Leitern und was man sonst so manchmal braucht, angeschafft und als Gemeingüter vorgehalten werden. Nach einer Erprobungsphase, in
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