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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Welzer
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ein anderes Zeitregime als die expansive Moderne, weshalb man von der Zeitenthobenheit der Dom- und Gartenbaumeister eine Menge lernen kann, was man in Zukunft brauchen wird.
    Dasselbe gilt für alle Tätigkeiten, die anderen Zeitvorgaben unterworfen sind, als dem Synchrontakt moderner Arbeitsteilung. Jemand, der als Restaurator im Metropolitan Museum in New York zwanzig Jahre lang ein Studiolo aus dem 15. Jahrhundert rekonstruiert, arbeitet in einer Zeitlichkeit, die von der Intarsienkunst und dem bald sechs Jahrhunderte alten Nussbaum und Rosenholz definiert ist und die mit den Zeittakten der Stadt draußen nicht das Geringste zu tun hat. Oder wenn jemand ein Musikinstrument zu spielen lernt, unterwirft er sich beim Spielen der Funktionslogik des Instruments und der Zeitlogik der Partituren: Alles andere macht keinen Sinn. Das Üben wiederum hat seine eigene Zeit, die sich nur begrenzt dehnen und verdichten lässt. Es sind die Eigenlogiken und Eigenzeiten bestimmter Dinge, denen man sich zu fügen hat, wenn man mit ihnen etwas anstellen will. Das anzuerkennen ist die Basis nicht nur für eine Ästhetik der Nachhaltigkeit, sondern auch für ihre Praxis. Eine reduktive Moderne hätte, anders gesagt, von Francesco di Giorgio Martini eine Menge zu lernen.

Nachhaltig. Studiolo aus Gubbio, Werkstatt von Francesco di Giorgio Martini, zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts. Metropolitan Museum of Art, New York.

Sparsamkeit
    Als kleiner Junge, schätzungsweise im Alter von vier Jahren, habe ich mal ein Butterbrot weggeworfen, das mir meine Mutter geschmiert hatte. Blöderweise habe ich es nicht irgendwo weggeworfen, sondern in der Nähe unseres Hauses, so dass meine Mutter es finden musste. Die daraus resultierende Bestrafung für meinen Frevel war das eine; worin sie bestand, habe ich vergessen. Aber die Verachtung dafür, etwas weggeworfen zu haben, was man essen kann , hat mich bis in meine Gymnasialzeit verfolgt, wo ich mich lange Zeit außerstande sah, Pausenbrote fortzuwerfen, die ich, aus welchen Gründen auch immer, nicht gegessen hatte. Ich trug dann lieber wochenlang in durchgeweichtes Butterbrotpapier eingewickelte uralte Schnitten in meinem Ranzen herum, weil ich nicht den Mut fassen konnte, sie – wie man heute sagen würde – zu entsorgen. Es ging einfach nicht. Die Erfahrung eines ganz und gar säkularen Sündenfalls saß zu tief. Erst später habe ich gelernt, Nahrungsmittel nicht zu achten. Heute schmeiße ich Brot weg, ohne mit der Wimper zu zucken.
    Ich folge damit den normativen Vorgaben unseres kulturellen Modells. Sparsamkeit aber folgt einem anderen Modell: Das dreht sich darum, auf keinen Fall mehr zu verbrauchen, als man zur Verfügung hat, ja, nach Möglichkeit davon immer etwas »aufzusparen« für die jederzeit mögliche Situation, dass man es »womöglich noch mal brauchen könnte«. Die meisten Angehörigen meiner Generation erlebten Sparsamkeit bei ihren Eltern als eine Tugend, die sich komplett verselbständigt hatte. Aus der Erfahrung der Knappheit der letzten Kriegsjahre und besonders der frühen Nachkriegszeit heraus waren viele Deutsche auch dann noch sparsam, als sie es längst schon nicht mehr sein mussten. Sprichwörter zur Tugend der Sparsamkeit gab es jede Menge (»Spare in der Zeit, dann hast du in der Not«, »Wer den Pfennig nicht ehrt …« usw.), es gab das Sparschwein, das Sparbuch, den Weltspartag. Angesichts all der protestantischen Zwanghaftigkeit, die durchaus in eine perverse Liebe zum Geld umschlagen konnte, war leicht zu übersehen, dass Sparsamkeit nicht nur unschöne Seiten hat, sondern zum Beispiel unnötige Abhängigkeiten vermeiden hilft. Wenn man keine Kredite zu bedienen hat, kann man über sein Einkommen frei verfügen, wenn man ein Bewusstsein darüber hat, was »man sich leisten kann« und was nicht, gerät man gar nicht erst in schuldnerische Abhängigkeiten. Die in Deutschland lange verbreitete Scheu vor Ratenkäufen und Konsumentenkrediten hat ihre Wurzel genau darin – und in dem protestantischen Ethos, dass man sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen habe, also erst mal verdient haben muss, bevor man es konsumieren kann. Und was das Brot angeht: Erst unlängst ist mir zum ersten Mal wieder eingefallen, dass bei uns im Dorf jedes Jahr Erntedankfest gefeiert wurde. Für uns Kinder war das einfach ein schönes Fest mit geschmückten Traktoren und Anhängern, aber substantiell handelt es sich um ein Ritual, das festhält, dass es keine

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