Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
vielen unabhängigen Communities of practice zusammengesetzt ist, liegt keine formale Organisationsstruktur zugrunde.
Drittens schließlich entwickeln funktionierende Communities of practice, wie Wenger sagt, ein Standardrepertoire von Ressourcen und Instrumenten, mit denen sie arbeiten: Das können Werkzeuge im klassischen Sinn sein, aber auch Geschichten, Erfahrungen, Routinen, Kniffe, Techniken usw. Die Weitergabe solchen gruppenspezifischen Handlungswissens muss ebenfalls nicht formal organisiert sein; die wichtigsten Informationen werden von den Beteiligten zum Beispiel während der Kaffeepausen ausgetauscht, nicht im Rahmen formaler Meetings.
Wenn diese drei Aspekte – Identität, Austausch, Repertoire – zusammenkommen, hat man eine handlungsfähige Gruppe, die Erfahrungen, Engagement, Kompetenz und Interesse in sozialer Praxis zusammenschließt; Norbert Elias würde sagen: ein Wandlungskontinuum – eine Einheit, die konstant bleibt und sich in ihrer Praxis verändert. »Praxis existiert nicht abstrakt. Sie existiert, wenn Menschen etwas tun, über dessen Bedeutung sie sich austauschen. […] Praxis lebt vom wechselseitig aufeinander bezogenen Engagement in einer Gruppe.« [126]
Die im Entstehen begriffene soziale Bewegung zur Transformation der Industriegesellschaft unseren Typs setzt sich aus vielfältigen Communities of practice zusammen: Solargenossenschaften, Gemeinschaftsgärten, Baugruppen, Recyclingbörsen usw. sind sämtlich identitätskonkrete Praxisgruppen, die ihre gemeinsamen Interessen, Absichten und Fähigkeiten in selbstgesetzten Aufgaben bündeln und wirksam werden lassen. Diese Gruppen sind Wir-Gruppen, in denen spezifische Selbstbilder etabliert werden, die wiederum Handlungsbereitschaft, Mut, Selbstvertrauen, Phantasie freisetzen – weil sie eben Identität sichern und Spaß bereiten, beides Voraussetzungen für Engagement. Man muss nur einen Augenblick daran denken, dass im Gegensatz dazu Gruppen, die sich auf Austausch und Diskussion beschränken, in der Regel bei der Formulierung von Konjunktiven landen (»Man sollte, man könnte, man müsste«) und daher hauptsächlich Gefühle von Frustration, Rechthaben und Missmut erzeugen. Universitäre Gremien, Parteigliederungen und andere Selbsterfahrungsgruppen liefern dazu reiches Anschauungsmaterial.
Communities of practice erzeugen bei ihren Mitgliedern das zutiefst positive Gefühl der Selbstwirksamkeit , ein Gefühl, das sich immer dann einstellt, wenn man etwas bewegt hat. Da Menschen es wünschenswert finden, positive Gefühle zu haben, tendieren sie zur Wiederholung dessen, was die positive Emotion ausgelöst hat – weshalb Menschen, die Selbstwirksamkeit erfahren, dazu neigen, immer weitere Aktivitäten in derselben Richtung zu entfalten. Wer einmal mit dem Verändern anfängt und damit erfolgreich ist, hört so schnell nicht wieder damit auf (deshalb übrigens lassen sich in der Forschung zum prosozialen Verhalten regelrechte Karrieren von Helfern beschreiben, also von Menschen, die mit einer zufällig von ihnen erbetenen Hilfeleistung beginnen und kurze Zeit darauf mehrere Schützlinge versorgen und vor Verfolgung sichern).
Alphabetisierung für eine nachhaltige Moderne
So, wie man von der sozialen Intelligenz resilienter Gemeinschaften in Asien oder Südamerika einiges für den Aufbruch in die nachhaltige Moderne lernen kann, so kann man gewiss von den Jugendlichen etwas darüber lernen, welche Assoziations- und Kommunikationsformen heute wirkungsvoll sind. Man muss sich ja ohnehin grundsätzlich in die Rolle eines Lernenden von Zukunftsfähigkeit begeben, denn wir wissen ja nicht, wie die Kombinatorik sozialer, technologischer und politischer Strategien auszusehen hat, mit der wir in die nachhaltige Moderne kommen können. Auch von daher ist die Zeit der Experten und des Belehrens vorüber. Zu der notwendigen Alphabetisierung für eine nachhaltige Moderne gehört nicht nur die Suche nach widerständigen Vergemeinschaftungsformen, sondern auch das Aufsuchen tradierter Ideen, Konzepte, Haltungen und Kulturtechniken, die heute ziemlich aus der Mode gekommen scheinen, die man künftig aber vielleicht wieder gut gebrauchen kann. Zum Beispiel:
Zeit
Die Grundsteinlegung für den Kölner Dom fand 1248 statt, das Gebäude ist aber erst sechs Jahrhunderte später fertig geworden. Noch heute muss ständig am Dom gebaut werden; Säure zerfrisst die Steine, hier und da wird etwas brüchig, eigentlich befindet sich das
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