Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
für eine Kultur der Transformation gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Erst wenn ein achtsamer Umgang mit Ressourcen und ein entsprechender Lebensstil nicht mehr »gedacht« werden, sondern fragloser Teil lebensweltlicher Praxis sind, ist man in der nachhaltigen Moderne angekommen.
Communities of practice
Natürlich werden nicht alle gleichzeitig dort ankommen, in der nachhaltigen Moderne. Einige sind heute schon da, andere haben sich bereits auf den Weg gemacht, viele werden mit Verzögerung nachkommen, einige nie. Soziale Transformationen sind ungleichzeitig; zunächst werden die sogenannten »first movers« als Spinner betrachtet, dann als Avantgarde, dann als Vorbilder. Man braucht daher auch keine Mehrheiten, um Gesellschaften zu verändern; andere kulturelle Modelle und Praktiken diffundieren dann in die Gesamtgesellschaft, wenn sie von Minderheiten in allen relevanten gesellschaftlichen Schichten getragen werden. Drei bis fünf Prozent der Bevölkerung reichen unter dieser Voraussetzung, um einen tiefgreifenden und nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel in Gang zu setzen.
Lokale Kulturen sind für die Entwicklung und Etablierung neuer Handlungsnormen von entscheidender Bedeutung. In allen Institutionen, Unternehmen, Dorfgemeinschaften, Schulen, Akademien, NGOs usw. ist es jeweils die gelebte Kultur, die ihren Mitgliedern das positive Gefühl gibt, Teil einer Wir-Gruppe und darauf stolz zu sein – oder eben nicht. Im positiven Fall setzt diese Identifikation Bereitschaft zum Engagement frei, im negativen blockiert die fehlende Identifikation jedes Engagement, das über das unbedingt Notwendige hinausgeht. Als Außenstehender spürt man, ganz unabhängig vom Zweck der Institution, in der Regel sofort, ob sie eine Wir-Gruppen-Identität ausgebildet hat oder nicht. Wenn beispielsweise ein geisteswissenschaftliches Forschungsinstitut aussieht wie ein Ordnungsamt und die Institutsangehörigen sich beim Mittagessen darüber aufregen, was gerade als Neuestes nicht funktioniert, weiß man: Hier identifiziert niemand sich mit einem gemeinsamen Ziel, es gibt keine Wir-Gruppen-Kultur. Das Institut wird entsprechend unproduktiv sein, eine hohe Mitarbeiterfluktuation haben; seine Mitglieder werden sich als Einzelkämpfer verstehen.
Der Schweizer Sozialforscher Etienne Wenger hat Lernprozesse in Gruppen unterschiedlichster Art untersucht und den Begriff »communities of practice« geprägt. »Communities of practice sind Gruppen, die ein Interesse oder eine Leidenschaft für etwas teilen, was sie tun, und die gemeinsam lernen, das besser zu tun.« [124] Alle Gruppen, die in einem gemeinsamen Lernprozess an einer definierten Aufgabe arbeiten, können also als Communities of practice bezeichnet werden: Das kann eine Stammesgesellschaft sein, die ihre Überlebenstechniken verbessert, eine internationale Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern, die – wie etwa die Impressionisten – einen bestimmten Stil praktizieren und durchsetzen, eine Gruppe von Ingenieuren, die einen Scheibenwischer entwickelt oder eine studentische Gruppe, die – wie etwa die Heidelberger Initiative für eine postautistische Ökonomie – ihre Disziplin zeitgemäßer studieren möchte.
Alle diese Gruppen zeichnen sich Wenger zufolge durch eine Identität aus, die ihrerseits durch den Arbeitsgegenstand bestimmt ist, um den sich die Aktivität der Community zentriert. Es handelt sich dabei also nicht um Netzwerke oder um Menschen mit den gleichen Interessen, sondern um Gruppen, die mit einer spezifischen Kompetenz an einem gemeinsamen Ziel arbeiten; jedes Gruppenmitglied versucht, etwas in den damit verbundenen Lernprozess einzubringen. Dieses Ziel kann sich im Prozess durchaus verändern, da es »durch das Handeln der Beteiligten selbst definiert wird […]. Es handelt sich nicht einfach um ein festgesetztes Ziel, sondern um eines, das unter den Beteiligten eine wechselseitige Verbindlichkeit schafft, die zum integralen Element ihrer Praxis wird.« [125]
Zweitens existiert die Gruppe nicht virtuell, sondern konkret: Im Verfolgen ihrer Aufgabe und im Erschließen ihres Gegenstandsbereichs kooperieren ihre Mitglieder, tauschen Informationen aus, helfen sich wechselseitig – kurz: Sie stehen in einem lernenden Dialog miteinander. Das muss keineswegs eine formale Organisation voraussetzen: Neue Kunst- oder Musikrichtungen zum Beispiel entwickeln sich durch informelle Austauschprozesse. Auch der Transition-town-Bewegung, die aus
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